Traumfänger mit losen Enden

Jede Geschichte hat wohl zahllose mögliche Enden, doch meistens kennen wir nur eines. Nicht so jedoch bei dem Doppelroman “Unique Item” und “Blue Book” von Milorad Pavić. Eine Buchvorstellung mit vielen Anfängen.

Vorbemerkung: Bei jedem neuen Beitrag habe ich Probleme, den richtigen Einstieg zu finden, der gleichzeitig spannend ist, mich idealerweise gebildet aussehen lässt und hoffentlich trotzdem sofort ins Thema führt. Diese Mal wollte ich mich nicht entscheiden und deswegen gibt es jetzt gleich mehrere Anfänge.

Viele Enden = viele Anfänge

Über beinahe 7.000 km fließt der Nil durch den afrikanischen Kontinent bis ins Mittelmeer. Natürlich zweigt hier und da mal ein Nebenfluss ab und an einer Stelle wird er so breit, dass Kartographen Victoria-See hineinschreiben konnten. Doch kurz vor dem Ende löst er sich auf in zahlreiche größere und kleinere Flüße – das ist das Nildelta. Plötzlich stellt sich die Frage: Wo genau ist jetzt der Nil hin? Oder ist das alles der Nil? Dieses Bild wird für Milorad Pavić zur Inspiration für ein weiteres Romanexperiment. Schon oft hat der serbische Schriftsteller andere Formen über seine Erzählungen gelegt: “Landschaft in Tee gemalt” ist ein Kreuzworträtsel, “Das chasarische Wörterbuch” ein Lexikon und “Die letzte Liebe in Konstantinopel” ein Kartenspiel. Der Doppelroman “Unique Item” und “Blue Book” entspricht einem Delta mit 100 (!) verschiedenen Enden.

oder:

Vielleicht können wir uns an die Anfänge unserer Träume darum oft nicht erinnern, weil wir meistens das Ende verpassen. Der Roman „Unique Item“ erzählt von der Kunst Träume zu finden und dem Träumer zu zeigen – bei der richtigen Bezahlung bis zum Ende. Doch das Buch selbst findet kein klares Ende, sondern fächert sich in 100 (!) unterschiedliche auf.

oder:

The ending is the crown and the demise of a work.

Diese alte Weisheit stellt Milorad Pavić seinem Roman “Unique Item”. Mit diesem Gedanken im Hinterkopf fragt sich der Leser bei dem, was folgt, ob Pavić mutig oder feige war. Denn der Roman des Serben hat nicht ein Ende, stattdessen bietet er dem Leser im “Blue Book” gleich 100 (!) zur Auswahl an.

oder:

Wir haben es bereits an anderer Stelle erwähnt: Das Ende kann eine ganze Geschichte in einem anderen Licht erscheinen lassen. Es ist die große Aufgabe des Autorens zu entscheiden, welchen Anstoß er zum Abschluss dem Leser (Zuschauer, Spieler) geben will. Sind alle Fragen geklärt, oder nur das Problem gelöst und alles bleibt offen? Gibt es eine After-Credit-Szene die eine komplett neue Geschichte ermöglicht oder wird hinter dem Ende ein Fragezeichen gesetzt. Oder soll das Ende nochmal alle verwirren – immerhin diskutieren die Menschen noch heute das Ende von “Lost”. Vielleicht wollte sich Milorad Pavić bei seinem Roman “Unique Item” einfach für kein Ende entscheiden und hat deswegen einfach mal 100 (!) geschrieben.

Liebesgeschichte in einer Detektivgeschichte

Aber dieser Beitrag soll kein Gegenstück zum “Blue Book” sein oder es gar mit mehr als 100 Anfängen übertreffen. Deswegen schauen wir doch endlich mal in das Buch und ich versuche einmal, die Handlung zusammen zu fassen, was bei diesem Mix von Romanze, Krimi und Phantastik gar nicht so leicht ist.

Der Roman “Unique Item” erzählt wie der androgyne Händler Alex (oder Sandra) Klozewitz versucht seine Schulden bei dem zweilichtigen Sir Winston loszuwerden. Vielleicht wäre es einfacher, wenn er normale Waren verkaufen würde, doch Alex und Sandra verkaufen Träume – ungeträumte aus der Zukunft. Einer seiner Kunden ist der krebskranke Opernsänger Matheas Distelli, der scheinbar alles tun würde für einen weiteren Blick in seinen Traum, den er nie träumen wird, weil er vorher stirbt. Distellis Geliebte, Madam Marquezine Androsovich Lempytzka, will schließlich wissen, was ihrem Geliebten widerfahren ist. In Klozewitz‘ Symptom House erfährt auch sie von ihrem nahenden Tod und blickt in ihre Träume. Im “Blue Book” schließlich versucht der Inspektor Eugene Stross ein Ende dieses vertrackten Falls zu finden.

Träume, Düfte und Deduktionen

All das erzählt Pavić in einer klaren Sprache, die die Absurdität der Handlung hervorhebt und die Deutungsvielfalt offen lässt. Ihm geht es weder um eine kunstvolle Sprache noch um eine komplexe Geschichte. Im Gegenteil erscheint die Handlung fast schon rudimentär. Der Autor legt vielmehr Wert auf seltsame Stimmung der einzelnen Momente, die in der ersten Hälfte von Gerüchen geprägt ist: Der Protagonist beschreibt, wie sich verschiedene Parfüme mischen und was ihm die Düfte über ihre Träger verraten.

Die zweite Hälfte dreht sich dann um Träume, die bei Pavić eine ganz eigene Logik besitzen. Alex und Sandra beherrschen die uralte Fähigkeit Träume in einem unendlichen Kosmos von Träumen zu finden – auch solche, die eigentlich nicht für sie bestimmt sind. Es kostet viel Mühe und ein besonderes Verständnis, einen ungeträumten Traum zu finden, vor allem weil solche Träume immer einzigartig sind einzig für den Träumer bestimmt ein einzigartiges Objekt.

Pavić nimmt sich schließlich viel Zeit zwei Träume zu erzählen, nicht ohne darauf hinzuweisen, dass es nicht so leicht ist:

Besides, it is difficult for me to assume that words can depict something that does not occur linearly nor in the lingual plane in dreams, but is (like in one’s thoughts) branched out in all directions and dispersed in the sensual plane and in visual characters, so to speak. Dreams do not inhabit a lingual solution, but drift in a free, timeless space, and as soon as they are transformed into words or writing they lose their compactness and spread out in length. Thus it seems that they last much longer than was actually the case. The numerous pages of the two dreams recorded in my report were dreamt in only several thousand seconds each. A dream, like fear, reaches into depth and width, not length.

Dessen ungeachtet entwirft Pavić dennoch zwei äußerst seltsame Traumwelten und sinniert über die Bedeutung und Beschaffenheit des Träumens, wobei wohl nicht jeder Gedanke für voll genommen werden muss.

Bei all dieser Träumerei findet sich auch ein Thema, das in vielen Büchern von Pavić eine Rolle spielt: Geschlechtlichkeit. (Vielleicht erklärt diese Auseinandersetzung auf die manchmal seltsam gesetzte Beschreibung von Geschlechtsverkehr). Sowohl “Das chasarische Wörterbuch” als auch “Die letzte Liebe in Konstantinopel” gibt es in einer männlichen und einer weiblichen Ausgabe, die an einzelnen Stelle voneinander abweichen. Außerdem erzählt “Die inwendige Seite des Windes” die Liebesgeschichte von der weiblichen und der männlichen Seite, bis sie in der Mitte zusammenfinden. Madam Lempytzka ist in ihrem Traum gleichzeitig androgyn, männlich und weiblich, was laut Inspektor Stross auf den Wunsch schließen lässt, ein Mann zu sein – Freud hätte das vermutlich nicht anders gesehen. Vor allem ist aber der Hauptcharakter in sich in Mann und Frau geteilt. Hier stellt sich dann die Frage, ob sich einer als der andere verkleidet, oder ob sowohl eine männliche und eine weibliche Seele in dem Körper leben, die jeweils eigene Träume haben. Da kann man mal drüber nachdenken.

Eine Ende ist wie der Tod

WARNING:

Just as smoking is bad for your health,
so is the reading of a hundred endings
of the same book.
It is almost like gaining one hundred
deaths instead of one.

Kommen wir endlich zum zentralen Thema: dem Ende bzw. den Enden. Der Geschichte von “Unique Item” folgt das “Blue Book”, das letztlich das Notizbuch des Inspektors darstellt. Denn auch wenn der Roman 100 (!) Enden bereit hält, so findet der Ermittler keinen Abschluss für seinen Fall. Zahlreiche Anmerkungen und Gedanken sind in dem blauen Notizbuch versammelt, von denen jeder das Ende des Romans sein könnte.

Ich habe mich zunächst für das 17. Ende entschieden, einfach weil das mein Geburtstag ist und ich eine Wahl treffen musste. Ich war leider etwas enttäuscht. Denn dieses Ende gab mir nicht das Gefühl von einem Abschluss, oder hat mir nochmal einen neuen Gedanken eingegeben. Es war wirklich nur eine weitere Anmerkung. Also habe ich die Warnung missachtet und weitere Enden gelesen. Viele von denen hatten wirklich etwas abschließendes, aber sie haben noch besser im Zusammenspiel funktioniert. Deswegen würde ich eher sagen, dass man sich einen Weg zum Ende suchen kann.

An dieser Stelle sei mir eine editorische Kritik erlaubt: Auch wenn ich die Titel für beide Teile wunderbar finde, frage ich mich, warum das Buch so herausgegeben wurde. Ich hatte erwartet, dass ich am Ende von “Unique Item” eines von 100 (!) Enden finde, und meine Ausgabe deswegen ziemlich einzigartig ist. Wenn Suhrkamp das mit Balestrinis “Tristano” gedruckt machen kann, sollte das doch bei einem e-Book möglich sein. Stattdessen werde ich aufgefordert, nach dem Roman noch ein Roman zu kaufen, den ich vorher für einen bloßen Zusatz gehalten habe. Wenn ich dann schon aus den 100 (!) Enden eines auswählen soll, dann hätte ich mir auch bessere Hinweise gewünscht. Kleine Überschriften, die mir einen Hinweis geben und damit die Möglichkeit nicht den Zufall, sondern meine Stimmung entscheiden zu lassen.

Fazit: Warum denn nur 100?

Zum Abschluss muss ich sagen, dass die Idee mit den 100 (!) Enden nur mäßig gut funktioniert hat, das aber der Lektüre überhaupt nicht abträglich ist. Es ist allerdings eher für Leser geeignet, die es auch sonst absurd mögen und gerne gefordert werden. Denn die Geschichte hat schon ihre Eigenarten und ich würde die Warnung einfach missachten und alle Enden lesen – am besten durcheinander. Wenn man es dann genau nimmt und auch die genaue Abfolge der Anmerkungen als jeweils ein Ende zählt, hat dieses Buch sogar wesentlich mehr Enden, als angekündigt.



Themenspezial Ende?

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Thilo
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Thilo

Hat sich von einer anfänglichen Faszination für Bücher, über erste Leseerfolge zum Bibliomanen entwickelt. Eigentlich hat der Kulturjournalist nur aus Langeweile gelesen, hier mal ein Buch im Zug, mal eines im Urlaub, mal ein bisschen vorm Einschlafen. Nach unausgegorenen Berufswünschen wie Koch, Hornist oder Schauspieler, verschlägt es ihn zum Studium der Theaterwissenschaft nach Leipzig und in die Redaktionsräume des Ausbildungsradios mephisto 97.6. Ganz beiläufig lässt er hier fallen, dass er eigentlich ganz gerne mal ein Buch lese. Schon einen Monat später leitet er – hopplahopp – die Literaturredaktion und Lesen wird zum Exzess (in den Tagen vor Buchmessen liest er gerne Nächte und Tage durch). Inzwischen spricht er hin und wieder bei MDR Kultur und dem Deutschlandfunk über Literatur, Theater, Musik, neue Medien und alles was die Leute (oder: ihn) interessiert. Sein Ziel: Der nächste Marcel Reich-Ranicki (und ein bisschen Gerhard Stadelmaier) werden – nur besser aussehend … und vielleicht etwas umgänglicher. So lange vergnügt er sich weiter auf schraeglesen.de

Ein Kommentar:

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