Jetzt noch länger und noch mehr Bücher: Wegen Corona-Verwerfungen und Arbeitsstress ist es Lara und mir nicht gelungen, die gleichen Bücher zu lesen. Deswegen gibt es stattdessen einen Rückblick – auf das vergangene Halbjahr und den Deutschen Buchpreis.
Es sind seltsame Zeiten: Eine Stunde kann sich wie ein Monat und ein halbes Jahr wie gerade mal eine Woche anfühlen. Tatsächlich haben wir die vorherige Folge kurz vor der nicht stattgefundenen Leipziger Buchmesse und diese kurz nach der nicht stattgefundenen Frankfurter Buchmesse aufgezeichnet.
Damals wie heute hatten wir uns Bücher von der Liste der Nominierten ausgesucht. Leider hatten wir wegen Aufträgen und Redaktionsdiensten beide keine Zeit, die Bücher vor der Verleihung zu lesen. Wir haben uns daher einfach mal für einen anderen Modus entschieden: Ich habe in meiner Urlaubswoche drei Bücher gelesen und Lara hat drei Bücher mitgebracht, die sie bereits im Frühjahr und im Sommer gelesen hatte. Dabei hat sich gezeigt, dass Lara sehr viel wacher und fokussierter war als ich…
Widerstände
Wie jedes Jahr habe ich wieder viel weniger von der Longlist und auch von der Shortlist gelesen, als ich wollte. Allerdings sind mir gleich mehrere Bücher aufgefallen:
Lara und ich haben bereits “Kirio” von Anne Weber mit viel Vergnügen gelesen. Ich würde sogar soweit gehen, dass der Roman das Highlight meines Lesejahres 2017 war. Als ich dann erkannte, dass die Geschichte “Annette, ein Heldinnenepos” in Versen geschrieben ist, war ich ganz begeistert. Leider hat diese Freude nicht während der gesamten Lektüre angehalten. Denn Anne Weber erzählt zwar eine spannende Lebensgeschichte und fängt eindrückliche Momente ein, doch es fehlt der entsprechende Lesefluss der gebundenen Sprache.
Anne Weber: Annette, ein Heldinnenepos, Matthes & Seitz, 208 Seiten
Deniz Ohde ist die diesjährige Debütantin der Shortlist und doch habe ich vor der Lektüre schon so viel von “Streulicht” gehört. Das liegt zum einen daran, dass ich sowohl bei der Verkündigung der Long- als auch der Shortlist bei MDR KULTUR beschäftigt war und dort vor allem auf lokale Autor*innen wie Deniz Ohde, die in Leipzig lebt, geachtet wird. Doch vielmehr zur Auswahl bewegt hat mich die Leseprobe, die so stimmungsvoll war, dass ich gleich weiterlesen wollte. Zwar gab es kurze Durststrecken, aber dennoch hat mich mein erster Eindruck nicht getäuscht.
Deniz Ohde: Streulicht, Suhrkamp, 284 Seiten
Als ich Lara diese Bücher vorgeschlagen hatte (hatte ich das?), empfahl sie als dazu passende Lektüre “Die Elenden” von Anna Mayr. Darin erzählt die Journalistin, die unter anderem für ZEIT, taz und Deutschlandfunk Nova arbeitet, von Armut und Arbeitslosigkeit. Vor allem letzteres hat sie persönlich als Kind erlebt. Ich muss sagen, dass mir dieses Buch, vor allem in seiner Länge nicht so viel gegeben hat, aber es war tatsächlich eine wunderbare Ergänzung zu “Streulicht”, weil beide Autorinnen, einmal aus mit der Fiktion und einmal mit Mitteln eines betroffenen Journalismus, etwas sehr Ähnliches erzählen. Deswegen habe ich die Bücher auch immer im Wechsel gelesen, sodass sich der Horizont wunderbar weiten konnte.
Anna Mayr: Die Elenden, Hanser Berlin, 208 Seite
Perspektiven
Eine Debatte, die ich rund um den Buchpreis verfolgt habe, drehte sich um Diversität. Wie gut sind die Perspektiven von nicht-heterosexuellen, nicht-trans, nicht-weißen Menschen vertreten. Schwach, sagen einige. Lara hat das mit ihrer Auswahl ausgeglichen.
Schon seit fast einem Jahr betreibt Lara einen viel verlässlicheren und ungewöhnlicheren Podcast als diesen hier: mimimi.podcast. In jeder Folge wird ein Thema auseinander genommen und vor allem die Schattenseiten beleuchtet, wobei es oft um Kapitalismus und Machtverhältnisse geht. Dieser Blick auf die Welt halt Lara vermutlich auch zu diesem Buch geführt, vielleicht auch durch die Empfehlung von Chimamanda Ngozi Adichie: “Süßwasser” von Akwaeke Emezi. Emezi identifiziert sich als transgender und non-binary. Der Debütroman erzählt geschickt von einer Person mit mehreren Persönlichkeiten, die in Nigeria und New York aufwächst und auch viele dunkle Phasen durchmacht.
Akwaeke Emezi: Süßwasser, Eichborn, 288 Seiten
Schon als wir mit dem Podcast begonnen haben, hat uns Maggie Nelson begleitet. Denn bereits damals hat Lara vorgeschlagen “Bluets” zu lesen. Aus sprachlichen Gründen war mir das damals zu kompliziert, außerdem wollte ich das Buch für unser Farben-Special aufheben, das sicherlich irgendwann kommen wird (jetzt gibt es kein zurück mehr). Stattdessen haben wir später “Argonauten” gelesen, was etwas kompliziert war. Als ich “Red Parts” im Buchladen gesehen habe, musste ich sofort an Lara denken. Sie hat das Buch tatsächlich gelesen. Maggie Nelson erzählt darin von einem Prozess, bei dem nach Jahren der Mord an ihrer Tante verhandelt wird. Lara war wie immer beeindruckt und begeistert.
Maggie Nelson: The Red Parts. Autobiography of a Trial, Penguin, 224 Seiten
auf Deutsch: Die roten Stellen. Autobiographie eines Prozesses, übersetzt von Jan Wilm, Hanser Berlin, 224 Seiten
Die letzte Publikation stellt eine Ausnahme dar, denn Lara hat sich kein Buch im engeren Sinne ausgesucht, sondern das Literaturmagazin Literarische Diverse, auf das sie via Instagram gestoßen ist (der Kanal ist sehr zu empfehlen, sagt Lara). Seit Anfang des Jahres gibt Yasemin Altınay das Magazin heraus, dessen Titel Programm ist. Es gibt einen Open Call zu einem bestimmten Thema, zu dem jede*r etwas einreichen kann, wobei Beiträge von nicht-weißen und LGBTQI+-Kunstschaffenden besonders ermutigt werden. So will das Magazin denen eine Stimme verschaffen, die zum Beispiel beim Deutschen Buchpreis kaum repräsentiert werden. Mit Erfolg, meint Lara.
Das Magazin kann über die Homepage bestellt werden.
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