Schon seit Monaten schaue ich immer wieder bei der Montagsfrage von Buchfresserchen vorbei. Das ist jetzt endlich eine Frage, die mich sofort Nachdenken lässt. Jetzt muss ich nur einmal die Gedanken ordnen und dann geht es los: Was waren meine Buchhighlights der ersten Jahreshälfte 2017?
Anne Weber: Kirio
Ich bin ein großer Freund der Metafiktion (es hat für eine oberflächliche Abhandlung von 100 Seiten gereicht) und verschachtelten Erzählsituationen, deswegen war ich auch sofort begeistert, als ich begonnen habe, den nominierten Roman “Kirio” zu lesen: Da sagt der Erzähler, dass er eigentlich keine Ahnung hat, was er erzählen soll und deswegen lässt er das lieber andere machen. Vielleicht macht er das auch, weil er zu sehr damit beschäftigt ist, sein eigenes Wesen als Erzähler zu hinterfragen.
Doch das reicht natürlich nicht aus für einen guten Roman, pseudo-intellektuelles Meta-Geschwafel wird ja auch schnell mal anstrengend. Also braucht es auch guten Inhalt. Wobei es bei “Kirio” nicht unbedingt die Handlung ist, die so überzeugend ist, sondern vielmehr der Charakter. Kirio, dessen Leben uns dieser Roman erzählt, reist einfach so durch die Welt, läuft auf Händen und vollbringt Wunder, von denen das größte ist, die Menschen (inklusiven den Leser) zum Lächeln zu bringen.
In einer Gesprächsrunde haben wir diskutiert, welcher Roman den Preis der Leipziger Buchmesse verdient hätte und wir haben “Kirio” gefeiert (eventuell etwas zu sehr) und wir waren etwas enttäuscht, als die Jury sich für die sichere Nummer entschieden hatte.
Roberto Bolaño: Die romantischen Hunde
Ich liebe Roberto Bolaño! In seinen Texten spüre ich immer wieder, wie dünn die Wand zwischen der Zivilisation und ihrem Untergang ist. Nach Jahren des Wartens ist endlich sein Gedichtband “Die romantischen Hunde” auf deutsch erschienen. Leider nicht in einer zweisprachigen Aussage, aber das lässt sich verkraften.
Ich finde auch, dass sich streiten lässt, ob dieser Autor (für den das Gedicht die bedeutendste literarische Form darstellte) wirklich Gedichte geschrieben hat. Denn beim Lesen fühlen sich diese Texte doch eher nach Prosaminiaturen an. Aber eigentlich ist das vollkommen egal, weil es schöne Texte sind, die etwas Traumwandlerisches haben, die eben genau diesen Bolaño-Ton besitzen. Mir hat der Band “Die romantischen Hunde” wieder sehr viel Lust auf Bolaño gemacht und ich hoffe, dass auch die noch unübersetzten Texte ihren Weg in die deutschen Buchhandlungen finden.
Martina Clavadetscher: Knochenlieder
Ich bin immer auf der Suche nach ungewöhnlichen Büchern. Auf so ein Buch bin auch der Suche nach spannenden Interviews auf der Leipziger Buchmesse gestoßen: Eigentlich kannte ich Martina Clavadetscher nur als Theaterautorin, mit denen ich mich immer gerne unterhalte. Doch nachdem ich einen Blick in den Roman “Knochenlieder” geworfen hatte, war ich begeistert. Der Texte ist eine wilde Mischung aus Prosa, Lyrik und klingt auch ein bisschen wie Theater. Wem die Geschichten beim Lesen Erinnerungen wachrufen, sollte sich dann nicht wundern. Denn Clavadetscher stützt sich auf Grimm’sche Märchen, die sie überschreibt, verfremdet, aktualisiert – vielleicht sogar konkretisiert.
Ich muss zugeben, es ist nicht immer leicht “Knochenlieder” zu lesen, aber ich bin begeistert, dass es ihn gibt.
Thomas Pynchon: Die Versteigerung von No. 49
Weil ich nicht sicher bin, ob hier nur Platz für neue Bücher ist, habe ich noch eine Wiederentdeckung mit reingenommen: Pynchons womöglich bekanntesten Roman “Die Versteigerung von No. 49”.
Eigentlich war mir schon immer klar, dass ich Pynchon unbedingt einmal lesen müsste, aber wie so oft, gibt es immer noch einen anderen Roman (zu wenig Leben für so viele Geschichten), doch glücklicherweise habe ich es endlich geschafft. Und ich bin schlicht begeistert – nicht überrascht, weil ich nichts anderes erwartet habe, aber umso mehr wiegt die Begeisterung.
Zu Beginn ging das Lesen etwas schwerfällig, doch bald habe ich mich komplett verloren. Was mich dabei fasziniert, ist die Leichtigkeit, mit der Pynchon hier Spuren zu einer Verschwörung legt, inklusive einer Geschichte in der Geschichte, die auch an Meister Shakespeare erinnert. Ohne alles zu kennen oder zu wissen, behaupte ich, dass das der perfekte Roman über Paranoia ist, denn selbst ich als Leser habe mich in den Wahn von Oedipa Maas verloren und weiß nicht, ob Trystero nun existiert.
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Danke für den Einblick. Aber “Die Versteigerung von No. 49” als bekanntesten Roman Pynchons zu reklamieren, halte ich doch für sehr gewagt. Nicht nur, weil er ihn selbst nicht mochte und befand, alles, was er bis dahin übers Schreiben gelernt – und in seinem Erstling “V” in style und in extenso vorgeführt hatte -, beim Verfassen dieses Romans leider wieder vergessen zu haben (wie er im Vorwort seines Story-Sammelbands “Spätzünder” erklärt.) Nein, “Die Versteigerung von No. 49” ist auch deshalb nicht sein bekanntester Roman, weil die bekanntesten Roman immer die ungelesensten sind (und wohl auch sein müssen). Bei Pynchon wäre das wohl “Die Enden der Parabel”, da “V” als Erstling schlichtweg zu viele Leute neugierig (und ihnen die literarischen Schuhe ausgezogen) hat. “Mason & Dixon” ist dagegen für Pynchons Verhältnisse (gerade)zu “klassisch”, als dass er ungelesen und damit “bekannt” sein könnte, auch wenn ich ihn für seinen besten Roman halte, da hier die Figuren nicht nur in den Worten existieren, sondern – wie der gemeine Germanist zu sagen pflegt – “zu Leben erwachen”, ohne dass man auf den ganzen wunderbaren Klamauk, die intellektuellen Rätsel und Randständigkeiten sowie die gute alte Paranoia (der Knoblauch in der Küche dieses Literaten) verzichten müsste. Aber ich schweife ab… Aber so ist es mit Pynchon und seinen Büchern: Es geht irgendwo los und endet irgendwo, und das Dazwischen ist die Geschichte. Das heißt: eine mögliche Geschichte, denn die tatsächliche hat genau so viele Stränge, Anfänge und Enden wie eine Briefmarke Zacken. Mindestens. Das merkt man selbst bei einem für Pynchons Verhältnisse vergleichsweise schmalen Bändchen wie “Die Versteigerung von No. 49”, wo es nicht zuletzt (aber immerhin: zuletzt) um die Versteigerung einer Briefmarkensammlung geht…
Vielen Dank für diesen Kommentar und Entschuldigung für die späte Reaktion. Ich denke, wir haben unterschiedliche Auffassungen von ‚bekannt‘, wobei Deine Theorie, dass die bekanntesten Bücher auch die am wenigsten gelesenen sind, eine Diskussion wert wäre. Gleichzeitig bin ich der Meinung, dass für die Bewunderung eines Werkes, die Geringschätzung des Autors für sein Werk oder die falsche Wahl der lesende Masse kaum von Bedeutung ist, höchstens insofern, dass es dazu anregen könnte, weitere (laut Autor bessere) Texte von ihm zu lesen. (Allerdings frage ich mich, ob Du die Meinung des Autors zu „Die Versteigerung von No. 49“ teilst?)
Aber zurück zur Behauptung: ‘Bekannt’ bedeutet für mich nicht unbedingt, dass man nur davon gehört hat, sondern dass man es kennt, es also gelesen hat. Aufgrund der Kürze und der Linearität von „Der Versteigerung von No. 49“ scheint es für viele, die Pynchon entdecken möchten, ein guter Einstieg zu sein, so auch – mit Erfolg – für mich. Deswegen habe ich mir auch direkt „V.“ besorgt und werde mich chronologisch durch die Werkliste arbeiten. Vielleicht werde ich auch hier darüber schreiben und ich würde mich freuen, weitere Anmerkungen eines Pynchon-Anhängers zu lesen, denn den Großteil des Kommentars lasse ich als Ausdruck der Begeisterung einfach mal so stehen.
Das mit dem “ungelesen” = “bekannt” war eher ein spontaner Furz in meinem Kopf als eine wirkliche These 🙂
Aber gut, ich teile Pynchons Ansicht bezüglich der “Versteigerung”, für mich ist sie – neben “Vinland” – sein schwächstes Buch, auch wenn das – verglichen mit vielen anderen Werken – noch immer starke Romane sind. Aber du hast Recht, die “Versteigerung” ist für den Einstieg ganz gut, aber vielleicht sollte man bei Pynchon generell einen anderen Lesemodus nutzen, nämlich den “Ich verstehe zwar nur die Hälfte, habe aber trotzdem großen Spaß”-Modus. Ich hab jedenfalls beim Lesen seiner Bücher oft keine Ahnung gehabt, wovon er da eigentlich spricht, besonders dann, wenn es um Mathematik und Physik geht (er hat das ja ne Weile studiert), aber egal, der Humor ist wunderbar und die Breite der Bildung unglaublich in seinen Werken. Irgendjemand hat letztens in einem englischen Blog geschrieben, “Gravitys Rainbow” sei in Wahrheit nichts anderes als ein 800-seitiger Schwanz-Witz. Da ist was dran. Pynchons Werke strotzen vor kleinen und großen Lustbarkeiten. Aber sie sind eben auch extrem lustig und albern, trotz der gerade enzyklopädischen Bildung, die da durchschimmert. Und sie sind noch etwas: herrlich politisch unkorrekt, Relikte einer Zeit, aus der “political correctness” noch kein Dauer(streit)thema und deshalb das “Unkorrekte” einfach Teil eines Erzählens war, bei dem man(n) so schreiben konnte, wie einem das schriftliche Maul gewachsen war. Manche mögend das für etwas spezifisch Amerikanisches halten, ich halte es für etwas zutiefst Menschliches – passend zu Pynchon, der im Grunde seines anarchistisch entflammten Herzens ein echter Humanist ist…