Überschriebene Märchen

Martina Clavadetscher verwandelt in ihrem Roman Knochenlieder Dornröschen in eine künstliche Prinzessin, Rumpelstilzchen in einen Hacker und eine Kriegsheimkehrer in singende Knochen. Geschickt und mit reduzierter Sprache überschreibt die Schweizerin Märchen aus der Grimmschen Sammlung. Wir haben mit der Autorin über die besondere Form ihres Romans, die Gefahren der Moderne und Bedeutung von Märchen gesprochen.

Ein Triptychon

Die drei ist die magische Zahl des Märchens, auch deswegen hat der Roman “Knochenlieder” von Martina Clavadetscher drei Teile, die jeweils anderen Zeiten Generationen, Zeiten und Märchen gewidmet sind.

Der Wunsch in dem Hause Grün nach einem eigenen Kind ist so groß, dass sie bereit sind die Regeln ihres kleinen Dorfes zu überschreiten. Denn die Gemeinschaft hat der modernen Welt mit ihren undurchsichtigen Kriegen den Rücken gekehrt und damit auch ihrer Technik. Trotzdem versuchen Jakob und Regina Grün ihrem Kinderwunsch mit Medizin nachzuhelfen. Tatsächlich wächst dann auch bald ein kleines Knirpskind heran, doch in den Augen einer besonders strengen Dorfbewohnerin handelt es sich um ein Stachelkind, von der Natur nicht vorgesehen, wird es der Natur auch nicht widerstehen. Als sei es eine Prophezeiung gewesen, wird Rosa mit 13 Jahren von Bienen gestochen und verfällt in eine Starre, bis ihr Prinz Fredy mit der heilenden Medizin heimkehrt.

Jahre später schöpft die Hackerin Pippa ahnungslose User ab, macht Code zu Geld, „Stroh zu Gold. Doch sie scheint an ihrem größten Coup zu scheitern: Die Firma Securitynews Inc. zu hacken, um mit E. (“das Schwarzweiße. / Nennt sie Pippa heimlich”) zusammen zu sein und einen Weg aus ihrer Gegenwart mit Umweg über die Vergangen in die Zukunft zu finden. Nachdem ihre Angriffe nicht funktionieren lässt sie sich von Ro.land helfen, der dafür nur ihr Kind will – statt Bytes ein Kind. Doch schließlich kann sie ihn überlisten.

Sie findet ihre Mutter wieder, Rosa Grün, die von Pippas Vater erzählt – Alfred. Er hatte lange Zeit im unsichtbaren Krieg gekämpft, doch eines Tages war er nicht mehr nach Hause gekommen. Auf seinen Spuren wandelnd kam sie zu einem Geschwisterpaar, mit dem er zusammen unterwegs war. Wie ihr Vater sind sie Instrumentenbauer und in einer Vitrine findet sie eine Flöte, eine schneeweiße Flöte. Als sie sie spielt, spürt sie ihren Mann. Auch der Flötenschnitzer gibt zu, Alfred erschlagen zu haben, aus Angst um sich und/oder um seinen Bruder. Jetzt konnte sie seine Leiche finden und sie begraben.

Sein Grab war das schönste,
denn sein Grab war
wie das Grab aller:
die Erde.
Worin Lebewesen Wurzeln schlugen,
woraus in veränderter Gestalt
Sträucher wucherten, das Knabenkraut seine grünen Fühler aus dem
Puppenboden stieß,
Rosentriebe, Rosenblätter, Rosenblüten sich entfalteten,
worauf sich Eier in Knospen legten,
als Schlafäpfel schlummerten,
wo nachts die Fledermäuse ihren Schall umflogen,
wo tagsüber die Wespen vergessen kreisten,
als gäbe es nur diesen einen Tag.
Als wäre das Leben ein langes Heute.

Zerfasernde Sprache

Martina Clavadetscher hat eine spannende Form für ihren Roman “Knochenlieder” gefunden, der zwischen allen Genres springt: Der reine Text könnte Prosa sein, klingt auch oft so. Doch die Schweizer Autorin hat ihn nicht einfach von links nach rechts geschrieben, stattdessen ist “Knochenlieder” von Zeilenumbrüchen bestimmt. Dadurch bekommt der Text etwas faseriges, rhythmisches und wird zuweilen ganz und gar lyrisch. Gedanken und Sprache rückt ein, wird mit Spiegelstrichen oder später, in der quantitativen Zeit, mit Vergleichszeichen, bis die Erzählung Rosas schließlich mittig gesetzt ist. Dieser Ansatz hat Auswirkungen auf die Sprache (oder vielleicht hatte die Clavadetschers Sprache Auswirkungen auf die Form?), die sehr knapp ist, mit wenigen Worten Situationen einfängt, zerreißt, oder verkürzt wird. Vielleicht erinnert diese Sprache deswegen an moderne Theatertexte, die oft einen ähnlich knappen Stil nutzen und schließlich ist das die dritte Form, in der Clavadetscher zu Hause ist. Glücklicherweise beherrscht sie dieses Fach, denn so entwickelt der Knochenlieder an einigen Stellen Geschwindigkeit und damit einen regelrechten Sog.

Im Unsichtbaren tut das Unfassbare seine Arbeit.
Da ist ein in Ruhelosigkeit
blubbernder Schaum
darin ein Eibläschen
wie von Zauberhand
teilt es sich
wird zwei
dann vier
dann acht
dann dichter
zur Masse
zum Bällchen
voller Bällchen
zur Brombeere
es schlüpft
aus Schalen
es schwimmt
durch Röhren
es liegt
am Ufer
es nistet
in der Mutterhöhle
wo der Zellschaum
sich dreht
sich richtet
sich verformt
und wächst
und wächst
und wächst
und wächst
und wächst
und weiter weiter weiter
wächst und wächst.
Volle vierzig Wochen lang
wächst, bis:
– Ein erster Schrei.
Dann erst zu wachsen beginnt.

Bienen, Code und Krieg – Märchen neu erzählt

Martina Clavadetscher hatte sich klare Vorgaben für “Knochenlieder” gemacht, sich klare Ziele gesetzt. Es war ihr Ziel Grimm’sche Märchen zu überschreiben. Das ist ihr erstaunlich gut gelungen. Sie erzählt eine Geschichte, von der der Leser glauben könnte, das hätte die Grundlage von Dornröschen sein können. Sie hat das Märchen nicht ins heute übersetzt, sondern einfach ins heute geholt. Die Geschichte vom Singenden Knochen findet in sehr ähnlicher Gestalt in dieses Buch, außer dass der wilde Eber der Vorlage, hier der Eber des Krieges ist. Dafür Clavadetscher hier eine erhöhte Erzählposition geschaffen, aus der sie über das Märchenerzählen an sich reflektieren kann. Doch am gelungensten ist der Autorin die Märchenüberschreibung im mittleren Teil gelungen, so geschickt, dass der Leser sich fragt, warum Rumpelstilzchen noch nicht zum Märchen der Zeit geworden ist. Eine Hackerin verwandelt wertlose Daten in Gold, die Gier des Zauberhackers nach etwas Menschlichem (es gibt diesem Rumpelstilzchen einen wahrhaften, eigentlich menschlichen Antrieb) und schließlich die Frage nach dem Namen: Der wahre Namen hatte in der Vorstellung schon immer große Macht, doch heute, gerade für Hacker, bekommt der Name auch die Bedeutung einer Mauer, die zu leicht eingerissen werden kann.

Mein Fazit

Ich mag den Roman Knochenlieder, auch wenn er es mir nicht leicht gemacht hat. Es dauerte doch eine Weile bis ich in den Rhythmus hinein gekommen bin, bis mein Hirn den richtigen Takt für diesen Text hatte. Aber trotzdem habe ich später immer etwas Zeit gebraucht, um die Vorgänge richtig zu deuten. Ich muss auch zugeben, ich habe die Märchen nicht gleich erkannt, obwohl, oder vielleicht gerade weil, die Struktur sehr nah an den Märchen bleibt. Wie so oft bei solchen Büchern muss man sich auf den Stil einlassen, konzentriert lesen, auch mal laut lesen, um die Stärke und Schönheit dieses Textes zu spüren.

Martina Clavadetscher: Knochenlieder. edition bücherlese, 288 Seiten, 27€

Thilo
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Thilo

Hat sich von einer anfänglichen Faszination für Bücher, über erste Leseerfolge zum Bibliomanen entwickelt. Eigentlich hat der Kulturjournalist nur aus Langeweile gelesen, hier mal ein Buch im Zug, mal eines im Urlaub, mal ein bisschen vorm Einschlafen. Nach unausgegorenen Berufswünschen wie Koch, Hornist oder Schauspieler, verschlägt es ihn zum Studium der Theaterwissenschaft nach Leipzig und in die Redaktionsräume des Ausbildungsradios mephisto 97.6. Ganz beiläufig lässt er hier fallen, dass er eigentlich ganz gerne mal ein Buch lese. Schon einen Monat später leitet er – hopplahopp – die Literaturredaktion und Lesen wird zum Exzess (in den Tagen vor Buchmessen liest er gerne Nächte und Tage durch). Inzwischen spricht er hin und wieder bei MDR Kultur und dem Deutschlandfunk über Literatur, Theater, Musik, neue Medien und alles was die Leute (oder: ihn) interessiert. Sein Ziel: Der nächste Marcel Reich-Ranicki (und ein bisschen Gerhard Stadelmaier) werden – nur besser aussehend … und vielleicht etwas umgänglicher. So lange vergnügt er sich weiter auf schraeglesen.de

Ein Kommentar:

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