Literatur als Vortex

“Brodsky” erzählt vom Leben des Poeten Joseph Brodsky und zugleich von der Welt des 20. Jahrhunderts. Sein Leben und seine Texte bilden die Grundlage für das Schau-Ensemble für eine Raum-Zeit-Reise. Das weckt natürlich mehrere Fragen: Wer ist dieser Brodsky eigentlich? Wie wird auf der Bühne New York zu Sankt Petersburg zu Venedig, und wie wird aus Literatur Theater? Genug Fragen und Themen um sich einzulassen auf “Brodsky” in der Schaubühne Lindenfels. Eine Szene nach der Premiere.

Das Schau-Ensemble wird Brodsky (Foto: Gábor Hollós)

Auf einer breiten Magistrale. Es ist mitten in der Nacht, nur noch wenige Menschen sind unterwegs. Ein Fahrradfahrer, vereinzelte Autos. Die letzten Lichter in den Restaurants und Bars werden gelöscht, die letzten Gäste machen sich auf den Weg nach Hause. Zwei Gestalten laufen durch die Dunkelheit auf dem Weg vom Theater nach Hause.

A: Das ging doch länger als erwartet. Ich hatte ja mit anderthalb Stunden gerechnet und nicht mit zweieinhalb.

B: Es hat sich jetzt aber auch nicht unbedingt so angefühlt.

A: Seinen Längen hatte es aber trotzdem.

B: War vielleicht auch etwas simpel.

A: Hm?

B: Naja, einfach Brodskys Leben zu erzählen, oder von den wichtigsten Stationen anhand seiner Texte. Das reduziert die Schriftstellerei wieder auf so etwas Autobiographisches.

A: Das stimmt ja so nicht. Also erstmal entstehen Texte ja immer in einer bestimmten Situation und es waren ja auch Texte, die klar Bezug hatten auf die Stationen, beziehungsweise eine Stimmung dieser Orte einfangen. Auch wenn ich es weniger als eine Raum-Zeit-Reise gesehen habe. War ja mehr ein Erinnerungsmosaik

B: Man ist schon durch verschiedene Zeiten und zu verschiedenen Orten gereist. Es ging wohl darum die Geschichte der Orte nachzuspüren, denn Brodsky hat das auch immer gemacht, deswegen gibt es ja diese vielen historischen Anspielungen in seinen Texten

A: Aber es wird nicht richtig gereist. Also ich glaube man versteht es auch besser, wenn man den Ankündigungstext liest und das Programmheft zur Hand hat, weil hier die Spielsituation erklärt wird und Brodskys Leben erzählt wird. Wenn Brodsky zu Beginn des Stückes vor dem Publikum steht, diesen Overhead Projektor anschaltet, oder Polylux, wie auch immer, dann ist er in New York, also an der letzten Station seiner Lebensreise, als Dozent in Amerika – so wollten sie vermutlich die vierte Wand durchbrechen. Und es beginnt keine Zeitreise, sondern eine Erinnergungsreise

“We must love one another or die” […] Die damals aktuelle Bedeutung dieser Zeile hieß natürlich: “We must love one another or kill”, oder “we’ll be killing one another in no time”. Nachdem er nur einmal nur über eine Stimme verfügte, und diese nicht gehört oder befolgt wurde, geschah genau, was er vorrausgesagt hatte: Töten. Dich, um es noch einmal zu sagen: angesichts des ganzen Ausmaßes an Gemetzel des zweiten Weltkrieges bereitete es wenig Freude, sich als Prophet erwiesen zu haben.

aus: Über das Gedicht “1. September 1939” von W.H.Auden, in: Flucht aus Byzanz

B: Interessant, dass sie sich ausgerechnet für eine Vorlesung über Auden entschieden haben. Aber wenn er sagt, dass er hier den kommenden Weltkrieg vorhergesehen hat, dann wird deutlich: hier beginnt die Welt Brodskys, weil er ja irgendwie auch für den Kalten Krieg steht.

A: Deswegen kommen ihm hier vielleicht die Erinnerung in den Sinn, von seiner verarmten Kindheit in Petersburg, von seiner Lieblingsstadt Venedig, die er jedes Jahr besucht hat, über die er sogar in Italienisch geschrieben hat.

B: Am stärksten war die Szene in Byzanz. Wie die vier Spieler mit Asche und Plastik diese Topographie nachstellen, Furchen ziehen für Flüsse und daneben eine Kuppel und ein Türmchen für eine Moschee aufstellen. Und sich der eine Spieler plötzlich in Pose wirft, in diese, von einer anderen Spielerin aufgewirbelten Aschewolke und beginnt zu rezitieren. Ist ja auch ein starker Text.

“Oder wenn Dschgaschwili (Stalin) die Maxime aufstelle: “Für uns ist niemand unersetzlich”, wie es im Verlauf der großen Säuberungen geschah. Der gemeinsame Nenner all dieser Taten ist die antiindividualistische Vorstellung, daß menschliches Lben im Grunde nichts ist – d.h. die Abwesenheit der Maxime, daß menschliches Leben heilig ist, und sei es auch nur, weil es einzigartig ist.

– aus: Flucht aus Byzanz

A: Gerade in der Sprecheraufteilung kommt da auch viel zum tragen. Alle vier Spieler sind ja Brodsky, Projektionen, Stimmungen oder Gedanken von Brodsky. Nur so konnten sie ja auch den literarischen Texten theatrale Situationen entwickeln.  in der Aufteilung konnten sich verschiedene Stimmungen zeigen, wie Verzweiflung am Menschen, dieses grundsätzliche Verhältnis zum Krieg, das sich niemals ändert. Ich glaube, das hat Brodsky auch zur Verzweiflung gebracht, dass das immer gleich bleiben würde.

B: Das wurde auch in den dramatischeren Szenen deutlich. Diese Diskussion, dass man jetzt demokratisch sei. Aber plötzlich wurde dann doch entschieden, dass alles so bleiben sollte. Für viele bestimmt eine treffende Beschreibung der Wende.

A: Bei den Szene aus Brodskys einzigem Schauspiel “Marmor” wird das noch deutlicher. Diese zwei Gestalten stehen für menschliche Ressourcen, dass sogar die Gefangenen hier klar limitiert werden. Ihr Dialog klingt wie der Zeit enthoben und sich immer wiederholend. zuerst eingeschlossen im Fernsehen, dann auf diesem Podest.

TULLIUS: […] Aber wenn man das Ganze auf die gesamte Menschheitsgeschichte umlegt, kommt man auf 6,7 Prozent je Generation.

PUBLIUS: Das ist nicht gerade viel…

TULLIUS: Genau so viel wie nötig … Und aufgrund dieser Daten hat Tiberius bei uns, ein für alle Male, die Häftlingsquote festgesetzt. Das ist die wahre Justizreform! Oder etwas nicht? ABer Tiberius ist noch weitergegangen. er hat diese 6,7 Prozent auch 3 Prozent herabgesetzt. Wegen der unterschiedlichen Strafmaße damals.

aus: Marmor. Schauspiel in 3 Akten

B: Das waren auch die schauspielerisch stärksten Szenen.

A: Weil es hier Drama und Konflikt gab, sonst waren es eher beschreibende Texte, die da über lange Strecken rezitiert wurden. Ich finde, da hätte man sich mehr trauen können, Texte noch mehr ineinander legen. Ich hätte gerne auch mehr von seiner Dichtung gehört, wobei das natürlich immer ein bisschen schwierig ist.

A: Ich fand es auch ganz angenehm, dass man den Texten so lauschen konnte, das wurde zwar irgendwann etwas anstrengend, aber es waren ja großartige Texte.

B: Waren auch gut gesprochen, und gut inszeniert. Der Regisseur hat die Bilder und Stimmungen aus den Texten sehr gut zum Leben gebracht.

A: Eben.

B: Aber er hat sich nicht selbst eingebracht und die Schauspieler dann auch nicht. Es war nicht zu sehen, was Brodsky mit ihm gemacht hat, oder mit uns heute machen könnte. Deswegen war das trotz vieler schöner Momente etwas blutleer.

A: Dann ist doch die Frage:

A+B: Was bleibt von diesem Abend?

A: Es ist auf alle Fälle ein Einladung Brodsky zu lesen, auch mit dem Wissen, wer er ist – oder war

B: Und dann ist da diese zur Verzweiflung aufrufende Erkenntnis: dass die Welt schon immer so war, voller Krieg, Materialismus und politischer Farcen. Deswegen ja antike Anspielungen mit Zeitkritik. Eine interessante Stimmung. Aber ich hoffe, wir werden nicht alle daran verzweifeln. Wär ja traurig.

Das Stück “Brodsky” hatte am 15. Oktober 2015 Premiere in der Schaubühne Lindenfels. Es spielten Johannes Gabriel, David Jeker, Laila Nielsen, Mario Rothe-Frese und Yulija Georgi vom Schau-Ensemble unter der Regie von René Reinhardt und in der Ausstattung von Elisabeth Schiller-Witzmann, Sound und Bild kamen von Gábor Hollós.

Thilo
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Thilo

Hat sich von einer anfänglichen Faszination für Bücher, über erste Leseerfolge zum Bibliomanen entwickelt. Eigentlich hat der Kulturjournalist nur aus Langeweile gelesen, hier mal ein Buch im Zug, mal eines im Urlaub, mal ein bisschen vorm Einschlafen. Nach unausgegorenen Berufswünschen wie Koch, Hornist oder Schauspieler, verschlägt es ihn zum Studium der Theaterwissenschaft nach Leipzig und in die Redaktionsräume des Ausbildungsradios mephisto 97.6. Ganz beiläufig lässt er hier fallen, dass er eigentlich ganz gerne mal ein Buch lese. Schon einen Monat später leitet er – hopplahopp – die Literaturredaktion und Lesen wird zum Exzess (in den Tagen vor Buchmessen liest er gerne Nächte und Tage durch). Inzwischen spricht er hin und wieder bei MDR Kultur und dem Deutschlandfunk über Literatur, Theater, Musik, neue Medien und alles was die Leute (oder: ihn) interessiert. Sein Ziel: Der nächste Marcel Reich-Ranicki (und ein bisschen Gerhard Stadelmaier) werden – nur besser aussehend … und vielleicht etwas umgänglicher. So lange vergnügt er sich weiter auf schraeglesen.de

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