Vielleicht war es wirklich die Mondsucht, die Jürg Halter zu seinem Buch „Mondkreisläufer“ bewegte. In seiner Prosaskulptur nimmt er den Leser auf eine wahnwitzige Reise zum Mond, in die Tiefen des Verstandes und jenseits der Grenzen von Textsorten.
Mond-Gedanken
Manchmal liege ich nachts wach und verweigere den Schlaf. Geht der Tag nicht erst zu Ende, wenn ich meine Augen schließe? Die Bäume vor meinem Fenster recken sich einem fahlen Licht entgegen. Ein Licht, das die Nacht fast heller als den Abend erscheinen lässt. Der Mond steht wieder einmal in voller Blüte. Ich steige aus dem Bett und blicke in den Himmel: Kreisrund und riesengroß steht er am Himmel. Er strahlt so hell, dass man an den Erkenntnissen der Astronomie zweifeln möchte und dem Mond eine eigene Leuchtkraft zusprechen möchte.
Auf die Reise
Auch Dich zieht der Mond in seinen Bann. Du machst Dich auf die Reise zum Muttermond. Genau Du, der Du dieses Buch liest: “Mondkreisläufer” von Jürg Halter. Der Schweizer Autor und Performer hat sein Theaterstück umgearbeitet und zu diesem kurzen Buch verdichtet und schickt Dich auf die Reise.
Du wachst auf und bist irritiert. Du weißt nicht genau, wo Du bist und wirst es auch die ganze Reise über nicht wissen. Du scheinst in einem Gefährt zu sitzen, umgeben von einigen anderen Menschen. Sie erzählen Dir, dass die Welt verschwunden ist und nur der Mond Zuflucht bietet. Noch viel mehr: Der Mond ist Deine wahre Mutter, zu der Du nun heimkehren kannst.
Doch vielleicht fragst Du Dich, was es mit dieser Reise auf sich hat. Passiert das wirklich? Träumst Du das nur, weil Du vor dem Schlafen zu lange zum Mond geschaut hast. Oder ist es eine Wahnvorstellung und Du sitzt nicht in einem weißen Raumschiff, sondern in einer Gummizelle einer Nervenheilanstalt. Du wirst es nie mit Sicherheit wissen, es bleibt Dir nur alles anzuzweifeln.
Skulptur aus Wörtern
Ebenso unklar bleibt auch dieses Buch an vielen Stellen. Halter hat diesen Text sehr bewusst nicht Roman genannt, denn eigentlich erzählt er keine große Geschichte. Es ist vielmehr eine Situationsbeschreibung mit wuchernden Gedanken. Halter bezeichnet sein Buch als Prosaskulptur, und eigentlich beschreibt auch das den Text nur unzureichend: Halter selbst zieht keine klare Trennlinie zwischen den verschiedenen Textgattungen und so verschwimmen diese Grenzen auch in diesem Text.
An einigen Stellen werden die Sprecher des Theaterstückes erkennbar, auch wenn sie an anderen Stellen zu einer unkenntlichen Stimme verschwimmen. An anderen Stellen ordnet sich der Fließtext in eine Versform. Dabei ändert sich der Ton jedoch nicht, der über das gesamte Buch einen lyrischen Ton besitzt. An wenigen Stellen nimmt der Text sogar die Form eines Mondes an oder löst sich in den Weiten des Alls auf.
Dabei wird der Leser mal direkt angesprochen, mal hört er ein Ich von sich sprechen. So verschwimmen auch hier die Grenzen und die Irritation wächst: Der Leser weiß unter Umständen nicht zu unterscheiden, ob er der Sprechende oder der Angesprochene ist. Die Grenzen zum Buch können verschwimmen.
Zweifel an allem
Die Themen, die Halter anspricht, sind vielfältig: Es geht um Sprache, Beziehungen, das Verhältnis zur Welt. Verbunden werden diese Inhalte durch den Zweifel, die bereits an der geschilderten Situation bestehen. Die Stimmen fragen, woher Worte ihre Bedeutung erlangen. Im Gespräch erzählt Halter davon wieviel Macht Worte und Gemeinschaft haben können und so streut der Text immer wieder Zweifel daran, ob Wörter von sich auch bedeutend sind oder Gemeinschaften wirklich immer funktionieren
Doch es liegt auch eine gewisse Sehnsucht in der Erzählung. Dieses Ich will seinen wahren Namen finden und sucht die Antworten dort, wo er es die Mutter vermutet. Es ist der Wunsch nach Geborgenheit und Ursprünglichkeit, der allerdings aufgrund der Fragilität der Situation gebrochen wird.
Die Entführung
Das Buch „Mondkreisläufer“ will den Leser aus seiner angestammten Welt entführen, zumindest erzählt das Buch von einer Entführung. Dabei hat das Buch wirklich Züge von einer Entführung und macht es dem Leser nicht gerade bequem. Als ob er einen Sack über dem Kopf hätte, kann er nur vermuten wo er gerade ist, die Geschichte in ihrer Gesamtheit bleibt ihm unbekannt. Halter erzählt nichts, er lässt uns an den Gedanken der Erzählenden teilhaben, die nicht immer durchschaubar kreisen.
Dieses “Mondkreisläufer” biedert sich nicht an, erschließt sich vielleicht nicht einmal auf den ersten Blick – vor allem nicht, wenn man doch irgendwie eine Geschichte, eine Story erwartet. Es wird fast zu viel angesprochen, erläutert und philosophiert. Ich musste das Buch zweimal lesen, um die Seltsamkeiten zu durchschauen und die angetippten nicht immer leichten Gedanken zu verstehen. Doch beim zweiten Lesen hat es mich begeistert. Glücklicherweise ist das “Mondkreisläufer” kurz und schafft einen guten Lesefluss, sodass eine wiederholte Lektüre keine große Überwindung kostet.
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Moin,
ich bin über das #litnetzwerk auf deinen schönen Blog gestoßen und ich muss sagen, es gefällt mir richtig gut hier!
ein toller Text!
Ich wünsche Dir noch einen guten Wochenstart!
Herzliche Grüße von meinem Lieblingsleseplatz,
Verena
Liebe Verena,
Sehr schön, dass Du zu uns gefunden hast und danke für die Komplimente.
Viele Grüße, Thilo