Ein Steinbruch der Geschichte

Das war eine Überraschung. Auch ich meinte, dass Frank Witzel den Buchpreis nicht bekommen würde. Viel zu abgedreht war sein Roman, mit seinem wilden Formenmix und der ungeraden Erzählweise. Nicht nur darüber habe ich mit dem Preisträger Frank Witzel gesprochen.

Schon dieser Titel…

Natürlich fasziniert zuerst der Titel, der schon Exzess vermuten lässt: “Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969” (versucht das mal in nur einem Atemzug zu sagen). Eigentlich war der nur eine Notlösung, denn als Witzel den unfertigen Text für einen Preis einreichte, brauchte er noch einen Titel – also schrieb er einfach den Inhalt des Buches auf. Er verrät uns somit schon so viel: 1. Die Erfindung der Geschichte, etwas, was nur der Roman kann und einen ungewöhnlichen Blick ermöglicht. 2. Das Manisch-Depressive lässt bereits auf wilde Fantasien schließen. 3. Der Sommer 1969 ist eine Umbruchszeit und bietet viel Stoff, der bis heute seine Wirkung nicht verfehlt.

… und dann schlägt man das Buch auf.

Doch was sagt ein Titel schon aus? Zumindest macht er neugierig und verleitet zum Aufschlagen des Buches. Beim Durchblättern wird der Leser immer wieder überrascht – neben Tagebuchpassagen gibt es da Gesprächsfetzen, einen Fragebogen, ein Interview, ein Theaterstück, Literaturpersiflagen, wissenschaftliche Vorträge und seltsame Gedichte.

Die Aneignung der Welt

Aber mal langsam… das Buch wäre kein Roman, gäbe es nicht den Ansatz einer Handlung. Da ist also dieser namenlose Teenager der im Sommer 1969 den üblichen Unsinn mit seinen Freunden verzapft. Dabei steht er wie jeder Jugendliche vor einer zu unverständlichen Welt, die er versucht sich dann anzueignen – mit seiner eigenen Fantasie.

“Ich habe sie letztes Jahr mit Holzresten und Abfällen von meine Revell-Modellen umgebaut, aber man sieht immer noch, dass es mal ein Ritterburg war. Andreas Baader, mein wertvollster Ritter, weil er eine schwarzglänzende Rüstung hat, ist gerade dabei, die Zugbrücke anzusägen, und Gudrun Ensslin stößt einen von den weißen Ritter in den Burggraben.”

Letztlich ist es ein normaler Vorgang: Alle Geschichtsschreibung baut doch auf Erfindung auf und jeder Mensch versteht die Welt nur aus seinem subjektiven Blickwinkel. Doch die Fantasie des jungen nimmt vielleicht etwas Überhand, meint er doch, dass er die RAF gegründet hat, noch bevor die bekannte Terrorgruppe sich diesen Namen gab. So endet der Teenager in der Irrenanstalt, wo sich der ganze Dualismus zeigt – gesund und krank, gut und böse, katholisch und politisch, schwarz und weiß. In seltsam unverortbaren Gesprächen wird die Wahrheit immer auf die Probe gestellt.

“Weiter, Foto Nummer 5?

Frank Witzel.

Deutscher?

Ja.

Sie wissen, dass er tot ist?

Ja.

Sie wissen, dass wir seine Leiche in einer Wohnung gefunden habe, die von einem türkischen Staatsbürger angemietet wurde, der im Verdacht steht, mit islamistischen Kreisen zu tun zu haben?

Das wusste ich  nicht.

Verwundert Sie das?”

Ein Porträt des Jahres

Der letzte Teil des Titels ist besonders wichtig für diesen Roman, denn Witzel will das Porträt eines Jahres zeichnen. Es ist eine Zeit, die er nicht geprägt hat, sondern die ihn geprägt hat. Deswegen fließt der Text über vor Verweisen – das reinste Sammelsurium an Bildern, Alltagsgegenständen und Musiktiteln. Gerade bei jüngeren Generationen, wie mir, ruft das nicht die gleichen Bilder hervor und so bleibt mancher Querverweis nicht ganz so zugänglich. Aber tatsächlich ist das egal, weil es gar nicht so sehr um Details geht, sie komplettieren nur das Bild. Tatsächlich ist beim Lesen ein Sound zu vernehmen, es kommt ein Gefühl für diese Zeit auf, in der nicht nur Frank Witzel erwachsen wird, sondern auch die ganze Bundesrepublik erwacht, die Elterngeneration negiert und Verantwortung fordert.

Ein wildes Sammelsurium

Der große Umfang ist natürlich erstmal abschreckendund dann findet sich auf über 800 Seiten nicht mal ein spannender Handlungsbogen. Ständig springt Witzel durch die Handlung, die Form, die Zeit und was jetzt die Wahrheit ist, weiß er vermutlich selbst nicht so recht. Da kann dem Leser schon mal die Kraft verlassen, sich wieder in das nächste Kapitel hinein zu finden. Aber das ist ein Trugschluss. Die Reihenfolge des Buches ist lediglich ein Angebot. Frank Witzel hat ein Glossar erstellt, das den Leser beispielsweise zu den sechs Stellen über Labyrinthe führt. Oder er blättert einfach rum, bis er sich fragt, was es denn auf sich hat mit dem Kapitel “Die Verfolgung und Ermordung des Erwachsenen Teenagers dargestellt durch die Schauspielgruppe der Spezialambulanz für Persönlichkeitsstörung des Universitätsklinikums Eppendorf unter der Anleitung des Herrn Antonin Artaud in seiner Rolle als Jean Marat”.

“ERWACHSENER TEENAGER: Das ist Unsinn, was ihr da redet.

ELTERN zusammen: Das ist der vorgegebene Text.

ERWACHSENER TEENAGER: Aber nicht von mir. Ihr seid im falschen Stück.

ELTERN zusammen: Und doch ist der Text vorgegeben.”

Witzel lädt die Leser also dazu ein, sich selbst durch diesen Text zu schlagen, den eigenen Weg zu suchen. Es ist eben kein Film, sondern ein Gemälde, bei dem sich jeder aussuchen kann, wo er zuerst hinschauen will. Außerdem meinte der Autor, das es auch in Ordnung sei, wenn man mal ein Kapitel, sei es ausufernde Handlung oder überhöhende Reflektion, nicht lese. Dieser Roman ist also eine große Herausforderung, aber auch eine wunderbare Fundgrube – schraeglesen ist also erwünscht.

Frank Witzel: Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969, Matthes und Seitz, 817 Seiten, 29,90€

Thilo
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Thilo

Hat sich von einer anfänglichen Faszination für Bücher, über erste Leseerfolge zum Bibliomanen entwickelt. Eigentlich hat der Kulturjournalist nur aus Langeweile gelesen, hier mal ein Buch im Zug, mal eines im Urlaub, mal ein bisschen vorm Einschlafen. Nach unausgegorenen Berufswünschen wie Koch, Hornist oder Schauspieler, verschlägt es ihn zum Studium der Theaterwissenschaft nach Leipzig und in die Redaktionsräume des Ausbildungsradios mephisto 97.6. Ganz beiläufig lässt er hier fallen, dass er eigentlich ganz gerne mal ein Buch lese. Schon einen Monat später leitet er – hopplahopp – die Literaturredaktion und Lesen wird zum Exzess (in den Tagen vor Buchmessen liest er gerne Nächte und Tage durch). Inzwischen spricht er hin und wieder bei MDR Kultur und dem Deutschlandfunk über Literatur, Theater, Musik, neue Medien und alles was die Leute (oder: ihn) interessiert. Sein Ziel: Der nächste Marcel Reich-Ranicki (und ein bisschen Gerhard Stadelmaier) werden – nur besser aussehend … und vielleicht etwas umgänglicher. So lange vergnügt er sich weiter auf schraeglesen.de

Ein Kommentar:

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