Decreation: Auf einer neuen Ebene

Mit “Decreation” hat die amerikanische Schrifstellerin Anne Carson einen der überraschendsten und vielseitigsten Bücher vorgelegt, die ich je gelesen habe. Um über Metapysik zu schreiben nutzt sie Gedichte, Dramatik und Essayistik. In der Vorbereitung auf unsere neueste Podcast-Folge bin ich wieder auf dieses Buch gestoßen und eine Rezension, die ich mal dazu geschrieben hatte.Eine vielseitige Textsammlung

Auf den ersten Blick wirkt die Textsammlung “Decreation” der Dichterin Anne Carson ziemlich heterogen. es lässt sich kaum sagen, was das überhaupt für ein Buch sein soll: Es finden sich darin Gedichte, Essays und kurze Prosa-Schnipsel; ein Drehbuch, ein Oratorium und gegen Ende noch ein Opernlibretto. So vielfältig wie die Textformen scheinen auch die Themen der Texte zu sein: Essays über Schlaf, Gnostizismen und eine Auseinandersetzung mit einem Bild. Carson behandelt Autoren von Homer bis Beckett und macht auch dazwischen gerne mal Halt. Der Buchtitel bezieht sich vermutlich auf die zwei Texte, die ebenfalls Decreation heißen: ein Essay und das Libretto. Doch am Ende erkennt der Leser, dass sich das Thema hier lediglich zuspitzt, das sich durch den ganzen Band zieht.

Die Rückschöpfung ist eine Auflösung des Geschöpfs in uns – und dieses Geschöpf, das im Selbst beschlossen liegt und vom Selbst definiert wird. Aber um das Selbst aufzulösen, muss man sich durch das Selbst bewegen, bis zum Innersten seiner eigenen Definition. Nirgendwo sonst können wir ansetzen. Das ist das Pergament, auf das Gott seine Lektionen schreibt.

Die Vordenkerinnen der Decreation

Diesen Vorgang der Rückschöpfung beschreibt sie an drei besonderen Frauen: der altgriechischen Dichterin Sappho, der mitteralterlichen Theologin Marguerite Porete und der modernen Philosophin Simone Weil. Carson betrachtet in dem Essay “Decreation” Texte dieser drei Schriftstellerinnen und beobachtet, dass alle eine Erfahrung des Rückschöpfens beschreiben. Dabei geht es um Glaube und Liebe, die vom Menschen verlangen, sich selbst zurückzunehmen. Erst diese Rücknahme oder eben Rückschöpfung macht Platz für etwas anderes: zum Beispiel für eine höhere Macht, aber vielleicht auch für ein höheres Gefühl. Carson analysiert diese Gedanken jedoch nicht nur, sondern lässt sich von ihnen auch anregen zu ihrer Oper “Decreation”.

Ich bin der Exzess.

Fleisch.

Hirn.

Atem.

Geschöpf das

die Stille des Himmels bricht,

Gott seine geliebte Schöpfung nicht stehen lässt

wie eine lästige Dritte zwischen zwei Liebenden

im Weg steht.

Die Schöpfung ist was Gott liebt –

   Berge, Meer und die Jahre danach –

der blaue Horizont unkompliziert, schlicht.

Die Welt, wie sie ist, ohne mich.

Dieses Geschöpf auslöschen!

Exzess.

Fleisch.

Hirn.

Atem.

Geschöpf.

Auslöschen dieses Geschöpf.

Decreation in Liebe und Schlaf

Doch die Rückschöpfung ist nicht nur Thema der beiden Haupttexte des Bandes. Seit einigen Jahren war die Rückschöpfung bestimmend für die Arbeit von Anne Carson. In dem Drehbuch “H & A” beschreibt sie – auf etwas absurde Art und Weise die Frage, welches Wagnis die Liebe fordert, und Sappho würde sagen: sich selbst zurückzulassen. Carson beschreibt Werke von Samuel Beckett und Betty Goodwin, in denen sie diese Rückschöpfung erkennt.

Wenn Körper immer tief ist, am tiefsten aber an der Oberfläche.

Wenn es zweierlei Konditionale gibt, faktisch und kontrafaktisch.

Wenn du schiebst und schiebst und auf einmal zieht es dich.

In dem Essay “Jedes Abgehen ein Anfang (Ein Lob des Schlafes)” analysiert Carson die Beschreibungen von Schlaf bei Virginia Woolf, Homer und Platon. Hier offenbart sich eine andere Form der Rücknahme. Carson zeigt sich als große Kennerin der Geschichte immerhin ist sie auch Professorin für das Altgriechische aber auch bei Schriftstellerinnen jüngeren Datums beweist sie großes Wissen. Wie schon bei früheren Werken überlagert sie in ihren Texten Inhalte und Zitate von anderen mit ihrer ganz eigenen Wahrnehmung. Sie reflektiert über ihre analytischen Texte und dekonstruiert darin ein zentrales Zitat:

Ein Frau, ins Netz gegangen – an so etwas wollen Filme glauben. „Zum Beispiel Sappho“, wie Longinus sagt.

              Grüner

Mit dem Netz in ihrem Innern hat sie auch irgendwie das Erhabene in sich. „Als könnten sich diese Verbinden zu einem Körper.“

                            Als

Ihr Körper vibriert, ihr ist immer kalt, da ist so ein mechanisches Geräusch, kalt, ihr ist auch heiß, sie hat sich ein Thermometer

                                          Gras

Unter den Arm gesteckt und vergessen, sie dreht sich an der Wand, schimmert, entgeistert: deine Beute. „Wundert dich das nicht?“

Fazit: Neuer Blick auf Beziehungen

Das Thema der Rückschöpfung, der Decreation wirkt merkwürdig anachronistisch und beinahe vollkommen metaphysisch. Dennoch hat Carson sich jahrelang damit auseinander gesetzt. Zuerst muss es ganz unbewusst gewesen sein, dann wurde es immer klarer. Dabei erstaunt vor allem, wie zu Beginn alles vereinzelt und für sich wirkt, doch am Ende alles zusammengehört. Für ihre Auseinandersetzung mit dem Thema wählt Carson immer neue Formen: den wissenschaftlichen Essay, dessen Inhalt sie dann in einer Oper noch einmal anders aufarbeitet, eine Analyse, dessen Fazit eine Ode an den Schlaf ist. Carson ist in dem Band “Decreation” gleichzeitig Forscherin und Dichterin. Das gibt beiden Seiten einen besonderen Stil, sodass sie sich wunderbar ergänzen. Auf diese Weise sind faszinierende Texte entstanden, die den Leser*innen vielleicht nicht wirklich zur Rückschöpfung bewegen, aber Bilder im Kopf entstehen lassen und eine neue Sicht auf Beziehungen werfen könnten.

Anne Carson: Decreation. Gedichte, Oper, Essay, S. Fischer, 250 Seiten

 

Thilo
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Thilo

Hat sich von einer anfänglichen Faszination für Bücher, über erste Leseerfolge zum Bibliomanen entwickelt. Eigentlich hat der Kulturjournalist nur aus Langeweile gelesen, hier mal ein Buch im Zug, mal eines im Urlaub, mal ein bisschen vorm Einschlafen. Nach unausgegorenen Berufswünschen wie Koch, Hornist oder Schauspieler, verschlägt es ihn zum Studium der Theaterwissenschaft nach Leipzig und in die Redaktionsräume des Ausbildungsradios mephisto 97.6. Ganz beiläufig lässt er hier fallen, dass er eigentlich ganz gerne mal ein Buch lese. Schon einen Monat später leitet er – hopplahopp – die Literaturredaktion und Lesen wird zum Exzess (in den Tagen vor Buchmessen liest er gerne Nächte und Tage durch). Inzwischen spricht er hin und wieder bei MDR Kultur und dem Deutschlandfunk über Literatur, Theater, Musik, neue Medien und alles was die Leute (oder: ihn) interessiert. Sein Ziel: Der nächste Marcel Reich-Ranicki (und ein bisschen Gerhard Stadelmaier) werden – nur besser aussehend … und vielleicht etwas umgänglicher. So lange vergnügt er sich weiter auf schraeglesen.de

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