Montagsfrage: Arche der Literatur

Seitdem die Menschheit das erste Mal einen von ihnen auf den Mond gebracht hat, träumen und hoffen sie, auf anderen Planeten eine Heimat zu finden. Doch auf der Reise ist nicht genug Platz, und deswegen geht es in der Montagsfrage, um die drei Bücher, die ich mitnehmen würde. Mein Gedankengang.

So stellte sich Gustav Doré die Arche Noah vor

Wenn man sich so in der Welt umsieht, drängen sich die Gedanken an den Weltuntergang regelrecht auf. Doch das muss ja noch lange nicht das Ende bedeuten, wie uns die unterschiedlichsten Geschichten gezeigt haben. Zum Beispiel wäre eine Flucht in den Himmel eine vielversprechendes Szenario. Also nicht wie die 144.000 Gerechten, die beim jüngsten Gericht ins Paradies entrückt werden. Eher die paar Tausend, die vom reichsten einen Prozent der Menschheit ausgewählt werden, für die Fluchtmission zu anderen Planeten unentbehrlich zu sein.

Dieses Was-wäre-wenn-Szenario hat Buchfresserchen zur Frage inspiriert: Wenn die Welt untergehen würde und du ins All oder auf einen anderen Planeten entkommen könntest, welche 3 Bücher/Reihen würdest du retten, damit sie kommenden Generationen erhalten bleiben?

Im ersten Moment hatte ich ein Déjà vu: Das ist doch die gleiche Frage, wie die mit den fünf Titel für die einsame Insel. Aber beim Weiterlesen wurde mir klar, dass das Gedankenspiel ja um einiges komplizierter ist. Denn ich kann nicht nur an mich denken, sondern muss überlegen, welche Werke der Menschheit erhalten bleiben sollen. Ich stöbere durch meinen Bücherschrank, ich schaue auf die zahl- und endlosen Leselisten, ich denken an die Bibliotheken voller Bücher – diese Aufgabe ist unlösbar.

Aber wenn ich gezwungen werde, dann beiße ich mich durch. Die ersten zwei Bücher sind auch recht schnell gefunden:

  1. „Ilias“ und „Odyssee“ von Homer: Das ist einfach der Beginn der Literatur, so sagen es zumindest viele, also kann sie in der Neuen Welt auch wieder Anstoß geben. Das beweisen auch die unterschiedlichen Überschreibungen des Epos, die in den vergangenen Jahrtausenden entstanden sind. Hinzu kommt, dass es ein gutes Zeugnis sein kann, wenn die Welt durch (garantiert sinnlosen) Krieg untergegangen ist. Und es erzählt von Heimkehr, was in dieser Situation auch tröstlich sein könnte.
  2. Die gesammelten Werke von William Shakespeare: Weil es einfach die besten Theaterstücke aller Zeiten sind, vor allem weil sie keine eigene Zeit haben. Auch hier zeigt sich die Qualität in den Mengen an Werken, die von Shakespeare inspiriert wurden. Ich hoffe, dass das Theater es so in die Neue Welt schafft. Außerdem würde es gleichzeitig auch noch etwas Lyrik geben. (Ich hatte auch an die antiken Dramen gedacht, a.) wusste ich aber nicht, ob das als 1 zählt, und b.) dachte ich, dass ich ja schon griechische Mythen habe.)

Spätestens beim dritten Titel platzt mir der Kopf. Ich denke, dass ich noch etwas aus dem 20. Jahrhundert mitnehmen müsste. Doch hier stehen so viele bedeutende Werke nebeneinander, die auch nicht mehr diesen alles überspannenden Blick haben. Ich kann es nicht nur daran entscheiden, dass ein Buch besser ist als das andere ist. Die Frage ist wohl viel eher, welches Buch wir auf dem neuen Planeten brauchen.

Wie wäre es mit „House of Leaves“ von Mark Z. Danielewski? Das ist ja mein absolutes Lieblingsbuch, das ich jedem ans Herz lege, der es noch nicht gelesen hat. Es ist formal herausragend, spannend und tiefgründig. Aber interessieren uns Horrorhäuser auf der Reise und kann ich meinen eigenen Geschmack als Maßstab nehmen?

Wie wäre es mit „Die Enden der Parabel“ von Thomas Pynchon? Ich habe es gerade erst angefangen zu lesen, weil es als ein Meisterwerk gilt. Es bietet einen Blick, der das 20. Jahrhundert ziemlich gut einfängt und auch diese Angst des Krieges einfängt. Andererseits spaltet es die Leserschaft, weil es echt kompliziert ist und für die Kommission des Pulitzerpreises war es seiner Zeit zu obszön, um der Jury-Entscheidung zu folgen. Das kann ich der Menschheit ja nicht einfach aufzwingen.

Wie wäre es mit James Joyce? „Ulysses“ hat einen Großteil der Autoren des nachkommenden Jahrhunderts geprägt. Außerdem bietet „Finnegan’s Wake“ wirklich Diskussionsstoff, so als erstes offenes Kunstwerk, das dem Leser eben keine klare Sicht bietet. Aber macht das mit eingeschränkgen Recherchemöglichkeiten, genau so viel Spaß und können wir Ulysses verstehen, wenn es kein Dublin mehr gibt. Zumal Arno Schmidt ja auch beträchtliche Zweifel am Werk geäußert hat?

Wie wäre es mit „Unendlicher Spaß“ von David Foster Wallace? Es wirkt wie ein Monolith in der Literatur. Ehrlich gesagt, habe ich es immer noch nicht gelesen und ich habe das Gefühl, dass ich es verpassen könnte – weil es so bedeutsam im Regal steht. Aber sind Drogenprobleme und solche Geschichten auf anderen Planeten genauso relevant?

Wie wäre es mit „2666“ von Roberto Bolano? Dieser Autor beschreibt den Menschen an der Grenze seiner Menschlichkeit. Dieses opus magnum erzählt von Literatur, von Geheimnis, von Einsamkeit und Grausamkeit. Es könnte dem Menschen eine Warnung vor seinen Abgründen sein. Aber bei aller Liebe ist mir dieser Roman fast schon zu konventionell. Und brauchen vielleicht bringt es die Gesellschaft nur auf dumme Ideen.

Wie wäre es mit „Harry Potter“ von J.K. Rowling? Ich halte die Reihe ja nicht für das literarische Non-Plus-Ultra, aber ich kann nicht nur an den Literaturprofessor denken. Irgendwie muss die nachfolgende Generationen denken und das hat diese Buchreihe auf jeden Fall geschafft: Kinder für das Lesen zu begeistern.

Da sitze ich also vor diesem Stapel Bücher und die Zeit läuft mir davon. Die Adern auf meiner Stirn pochen. Ich spüre Verzweiflung aufsteigen. Die können ein Raumschiff bauen, für interplanetare Reisen, aber keine Festplatte für die Literatur der Menschheit? und warum muss ich das überhaupt entscheiden: Hätte es nicht einen Volksentscheid geben können, welche Bücher in die Bibliothek gehören.

Ich sitze auf gepackten Koffern, die Bücher immer noch vor mir. Das Abholkommando könnte jederzeit an meine Tür klopfen. Dann werde ich das Buch greifen, zu dem der Zeiger gerade am meisten ausschlägt und hoffe, dass ich es nicht für den Rest meines Lebens bereuen werde. Oder kann mir noch jemand helfen?

Thilo
Latest posts by Thilo (see all)

Thilo

Hat sich von einer anfänglichen Faszination für Bücher, über erste Leseerfolge zum Bibliomanen entwickelt. Eigentlich hat der Kulturjournalist nur aus Langeweile gelesen, hier mal ein Buch im Zug, mal eines im Urlaub, mal ein bisschen vorm Einschlafen. Nach unausgegorenen Berufswünschen wie Koch, Hornist oder Schauspieler, verschlägt es ihn zum Studium der Theaterwissenschaft nach Leipzig und in die Redaktionsräume des Ausbildungsradios mephisto 97.6. Ganz beiläufig lässt er hier fallen, dass er eigentlich ganz gerne mal ein Buch lese. Schon einen Monat später leitet er – hopplahopp – die Literaturredaktion und Lesen wird zum Exzess (in den Tagen vor Buchmessen liest er gerne Nächte und Tage durch). Inzwischen spricht er hin und wieder bei MDR Kultur und dem Deutschlandfunk über Literatur, Theater, Musik, neue Medien und alles was die Leute (oder: ihn) interessiert. Sein Ziel: Der nächste Marcel Reich-Ranicki (und ein bisschen Gerhard Stadelmaier) werden – nur besser aussehend … und vielleicht etwas umgänglicher. So lange vergnügt er sich weiter auf schraeglesen.de

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert