#pdlbm20 – Da ist doch viel Schönes dabei

Die Nominierten für den Preis der Leipziger wurden bekannt gegeben. Ich habe mir die Liste angeschaut und in die Bücher reingelesen. Hier also einige Gedanken zu allen Kategorien.

Der erste Blick hat bei mir Euphorie ausgelöst: Denn zuerst standen da die fünf Titel in der Kategorie Belletristik (die mich sowieso am meisten interessieren, weil ich die auch am besten einschätzen kann), die dann ihrerseits alphabetisch nach den Autor*innennamen sortiert sind. Da las ich den Titel von Verena Güntners neuem Roman „POWER“, auf den ich mich sehr gefreut habe, weil ich schon ihr Debüt sehr mochte (soweit ich mich richtig erinnern kann – das war ziemlich am Beginn meiner „Karriere“ als Literaturkritiker).

Darauf folgte gleich Maren Kames‘ Band „Luna Luna“, für den ich mich bereits beim Bücherstadtkurier sehr begeistert hatte. Überhaupt schien mir die Liste auf den ersten Blick, so wie es die Jury auch angepriesen hatte, sehr vielfältig zu sein und ich habe mich vor allem gefreut neben doch eher konservativen Titel bezüglich der Auswahl, auch wirkliche gewagtere Ansätze zu sehen. Aber der Reihe nach.

Die Fakten

Ich kann mich noch erinnern an das Frühjahr 2016. Als damals die Nominierten verkündet wurden – #frauenzählen war noch ganz am Anfang -, war der Aufschrei über die Geschlechterverteilung in der Liste groß. Frauen schienen nur für Gedichte und Übersetzungen gut zu sein. Ich habe damals argumentiert, dass man einer Literaturjury unter dem Vorsitz einer weiblichen Kritikerin doch keinen Sexismus vorwerfen müsse.

Vier Jahre später ist die Welt grundlegend anders. In einem Gespräch bei Deutschlandfunk Kultur wurde die Frage danach gestellt, ob die Liste divers genug sei. Der Experte im Studio winkte akustisch ab und meinte, dass es doch um den literarischen Wert ginge. Nun bin ich inzwischen anderer Meinung. Auch nachdem das Berliner Theatertreffen zum ersten Mal unter Auflage einer festgelegten Quote nominiert hat (auch wenn mir die Auswahl ganz besonders an einer Stelle nicht gefällt).

Aber das Abwinken war weniger schlimm, als es jetzt vielleicht geklungen hat, denn im Großen und Ganzen kann man sich eigentlich nicht beschweren: In jeder Kategorie sind jeweils zwei Frauen nominiert – und das nicht nur mit frauentypischen Themen. Sicherlich geht es in „Luna Luna“ auch um Feminismus und die Biografie zu Hilma af Klint ist der Versuch einer weiblichen Malerin ihren zustehenden Platz in der Kunstgeschichte einzuräumen. Doch es gibt auch eine Geistesgeschichte der Krebserkrankung und eine Geschichte über eine Kindheit in einem Dorf im Umbruch. Ob Armin Nassehi als Autor mit Migrationshintergrund zählt und „Oreo“ von Fran Ross für Thema Rassismus sensibilisiert, kann man diskutieren.

Aber hier noch die harten Fakten: In der Kategorie Belletristik ist die Auswahl sehr aktuell: Vier der fünf Bücher liegen noch nicht im Buchhandel. Nur der formale Ausreißer, Kames‘ Langgedicht, war bereits vor der Frankfurter Buchmesse im Handel. In den anderen Kategorien sieht es anders aus: Lediglich Julia Voss‘ Künstlerbiographie ist noch nicht erschienen und Bettina Hitzers historische Betrachtung wurde erst vergangenen Monat veröffentlicht. Im Bereich Übersetzung finden sich ausschließlich Herbsttitel.

Schön ist auch, dass in jeder Kategorie kleine und junge Verlage vertreten sind. Neben Fischer, Kiepenheuer, Dumont und Suhrkamp ist in der Belletristik auch der kleine, wenn auch etablierte Secessions-Verlag vetreten. Im Sachbuch macht der junge Leipziger Verlag Spector Books auf sich aufmerksam. Der eta-Verlag ist auch mir erst durch die Nominierung in der Übersetzung wirklich ins Bewusstsein gerückt.

Stileigenheiten

Die Belletristik-Nominierten zeichnen sich durch sehr eigene und vielfältige Schreibstile aus. In ihrem Debüt „Es bringen“ hat Verena Güntner bereits unter Beweis gestellt, dass sie in der Lage, einen ganz eigenen und angemessenen Ton zu entwickeln. Ganz so stark findet sich das in „POWER“ nicht mehr wieder, doch Güntner bleibt dem Blick aus der Perspektive der Außenseiter treu und erzählt fantasiereich, wie das Mädchen Kerze versucht einen verschwundenen Hund zu finden – und natürlich noch viel mehr.

Über Maren Kames‘ „Luna Luna“ habe ich eigentlich schon alles erzählt. Vor allem freut es mich, dass wieder etwas, dass mehr in Richtung Lyrik tendiert auf der Liste ist. Genau darin besteht nämlich die Stärke dieses Buchpreises: Das auch Titel, die sich nicht so recht in die Kategorien des Marktes einordnen lassen („Luna Luna“ zählt als Lyrikband, steht in meiner Buchhandlung bei den Romanen), trotzdem einen Raum finden. Genau das zeichnet diesen Text aus: Es ist eine sprachmächtige Mischung aus Nocturne, Drama, Klagegesang und Gedankenstrom. Nicht immer leicht, aber immer faszinierend.

Etwas zurückhaltender kommt da Leif Randts „Allegro Pastell“ daher – die Geschichte einer Beziehung. Der Roman ist klar in der Gegenwart angesiedelt mit Verweisen auf Musik- und Filmtitel und unter zurückhaltender Einbindung eines Deutsch, dass dem Milieu entspricht. Zwei moderne Akademiker versuchen für sich eine Form zu finden, in einer althergebrachten Zweierbeziehung zu leben. Dezent aber treffend.

Damit kommen wir zur älteren Riege – sowohl thematisch wie auch personell. Bei den ersten Meldungen wurde vor allem die Nominierungen Lutz Seiler, Träger des Deutschen Buchpreises, und Ingo Schulze, der sogar bereits einmal den Preis der Leipziger Buchmesse erhalten hat, hervorgehoben. Beide blicken zurück zum jüngsten Umbruch der deutschen Geschichte.

Schulze erzählt in „Die rechtschaffenen Mörder“ von einem Antiquar in Dresden und seinem Leben über die Zeiten des Umbruchs hinaus. Das tut er liebevoll fabulierend: Er beschreibt das Antiquariat in Dresden-Blasewitz als einen magischen Ort. Es geht auch darum, wie sich das Bildungsbürgertum nach der Wende verändert hat. Seit 2014 fragen sich das vermutlich auch westlich der ehemaligen Grenze einige Menschen.

Lutz Seiler blickt in „Stern 111“ auf einen engeren Zeitraum. Bereits in seinem Erfolgsroman „Kruso“ betrachtet er Aussteiger an der Grenze der DDR. Nun lädt er uns ein in die Hausbesetzerszene im Berlin des Jahres 1990. Pünktlich zum Jubiläum versucht er die damals herrschende Stimmung zu vermitteln: Auf einmal war alles möglich, doch es war auch ein Kampf um Freiräume. Bereits “Kruso” war sehr sinnlich, soll heißen an den Sinnen entlang erzählt. In dieser neuen Erzählung scheint er diese Sinnlichkeit noch verdichtet zu haben, da pfeift es und der Kopf schmerzt. Dass der Protagonist zu Beginn in Leipzig ankommt, hat den Roman für mich gleich interessanter gemacht – an der gleichen, hier Klagemauer genannten, Wand fahre ich auch jeden zweiten Abend entlang.

Klassische Kategorien

Im Bereich der Non-Fiction bleibt es doch eher so wie erwartet. Süffig erzählte Biographien, historische Betrachtungen und eine philosophische Analyse. Vielleicht fällt „Das Jahr 1990 freilegen“ doch etwas raus mit seinem Collagecharakter, aber sonst wirkt auf den ersten Blick alles wie immer.

Auf dem zweiten Blick scheint es mir jedoch, als wäre die Auswahl zeitlich wesentlich näher an uns dran. Denn alle Geschichten reichen ins 20. Jahrhundert. Da gibt es keine dicken Biographien von Renaissancegrößen und geschichtlichen Betrachtungen jenseits dieser Zeit.

Davon abgesehen ist die Auswahl sowieso aktuell: Krebs scheint die prägende Krankheit unserer Epoche zu sein (über den metaphorischen Wert dieser Feststellung will ich hier nicht spekulieren). In letzter Zeit habe ich einiges von Überschreibungen von Stoffen der klassischen Moderne gelesen. Nicht selten wurde die damals grassierende Tuberkulose durch die Krebserkrankung ersetzt. In der Gesamtansicht scheint „Krebs fühlen. Eine Emotionsgeschichte des 20. Jahrhunderts“ viel zu verraten über den modernen Menschen und sein Verhältnis zu Körper und Medizin. Bettina Hitzer erzählt das durchaus anekdotenreich und schafft so einen neuen Blick auf diese irgendwie doch seltsame Krankheit.

Michael Martens „Im Brand der Welten“ gehört zu einem Typus, der nicht fehlen darf: die breit erzählte Biografie. So nutzt der Autor auch durchaus selbst einige literarische Ansätze, wenn er vom bewegten Leben des Literatur-Nobelpreisträgers Ivo Andrić berichtet. Martens wirft einen kritischen Blick auf den außergewöhnlichen Literaten und erzählt gleichzeitig vom Europa im 20. Jahrhundert, von dem gescheiterten Staat Jugoslawien sowie dem Widerstreit von Christentum und Islam – also eine Frage, der in den letzten Jahren wieder größere Bedeutung zugemessen wurde.

Armin Nassehi greift in seiner Abhandlung „Muster“ ein Thema auf, das uns schon seit einigen Jahren immer wieder begleitet. Das könnte es langweilig machen. Der spannende und deswegen so relevante Ansatz ist die Behauptung, dass die Digitalisierung vom falschen Ende her betrachtet wird. Das erzählt in einem leichten Ton, dem man jedoch den akademischen Hintergrund durchaus anmerkt.

Julia Voss folgt mit der Biographie „Die Welt in Erstaunen zu versetzen“ einem Trend in der Kulturgeschichte (damit will ich ihr nicht unterstellen, dass sie einem Trend hinterherlaufen würde): Sie erzählt von einer Frau, die etwas Bemerkenswertes geleistet hat, bevor ihre männlichen Kollegen dafür gefeiert wurden. Hilma af Klint hat nämlich schon vor Kandinsky begonnen, abstrakt zu malen. Voss betrachtet diese Leben auch unter dem Aspekt weiblicher Selbstermächtigung. Das Buch geht aber nur schwer an, weil – zumindest zu Beginn – ein klarer Fokus fehlt.

Aus der Auswahl sticht das Buch „Das Jahr 1990 freilegen“, das Jan Wenzel herausgegeben hat, hervor. Denn es erzählt dieses bemerkenswerte Jahr nicht, sondern zeigt in Fragmenten, die im Zusammenspiel ein Bild aus Bildern ergeben, ein bemerkenswertes Jahr des Umbruchs. Der Gestaltung ist der Ursprung in der Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst anzumerken (dafür reicht schon ein kurzer Besuch auf der Website der HGB). Ohne mich groß vertieft zu haben, würde ich behaupten, dass das kein Buch ist, dass man durchgelesen haben muss, aber das im Schrank stehen sollte, um immer wieder darin zu blättern.

Jetzt auch auf deutsch

Kommen wir nun zu der Kategorie, die immer etwas vernachlässigt wird. Nicht aus bösem Willen, sondern einfach weil die Zeit oft nicht reicht und es bei der Übersetzung doch oft etwas mehr Erklärung bedarf, um zu verdeutlichen, was hier so preisverdächtig ist. Denn die Co-Genialität von Übersetzern wird vielen erst klar, wenn sie schlecht übersetzte Texte bewusst lesen.

Auffällig ist in jedem Fall, dass sich unter den Nominierten vor allem Ausgrabungen und Neuübersetzungen finden. Nur bei einem Titel, „Die Sanftmütigen“ von Angel Igov, folgte die Übersetzung der Veröffentlichung im Original zeitnah. Leider kann ich mehr zu diesem Roman auch nicht erzählen.

Dann stehen zwei Ausgrabungen auf der Liste. „Oreo“ von Fran Ross erzählt von einem Mädchen, das Mehrfachdiskriminierungen ausgesetzt ist (Forscher sprechen da wohl von Intersektionalität): Sie ist weiblich, schwarz und jüdisch. Ross erzählt das mit Selbstironie und Sprachwitz. Genau darin liegt auch der Wert der Übersetzung von Pieke Biermann, die unterschiedliche Slangs elegant in die Übertragung einweben musste.

Die zweite Ausgrabung ist die hierzulande wenig bekannte, aber in ihrer Heimat anscheinend glühend verehrte Clarice Lispector. Luis Ruby hat den Band „Tagtraum und Trunkenheit einer jungen Frau“, der Erzählungen versammelt, übersetzt. Es sind kurze Geschichten mit starken Bildern und ungewöhnlich treffenden Vergleichen. Diese Stimmung, diese lyrischen Qualitäten elegant ins Deutsche zu bringen, kann man durchaus als Kunst bezeichnen.

Dem gegenüber stehen zwei Neuübersetzungen: Melanie Walz bringt George Eliots „Middlemarch“ und Simon Werle Gedichte von Bukowski in ein neues Deutsch. Das ist nämlich der große Vorteil der Übersetzung, dass sie ältere Literatur immer wieder in eine Zeitgenossenschaft übertragen, die dem Original wegen ihrer Unantastbarkeit (denkt nur an Preußler und das N-Wort) manchmal schwer fällt. Da ich beide Werke nur peripher kenne, möchte ich mich nicht zu großen Urteilen hinreißen lassen, aber beide Übersetzer scheinen das geschafft zu haben.

Schwerpunkte

Das Schöne an solchen Listen ist ja vor allem, dass sich die scheinbar zufällig zusammengestellten Titel, plötzlich anfangen, sich zu überlagern. Plötzlich werden Querverbindungen und zentrale Fragen sichtbar.

Eine ist natürlich das 30-jährige Jubiläum der Wiedervereinigung (denn letztes Jahr war der Anlass nur, dass die Grenze geöffnet wurde). Am eindeutigsten wird das in „Das Jahr 1990 freilegen“. In gewisser Weise wird das durch Lutz Seilers „Stern 111“ ergänzt und von Ingo Schulze verlängert. Es ist aber auch ein allzu typisches Thema für Buchpreise. Ich erinnere an „Kruso“ von Seiler (Deutscher Buchpreis), an „89/90“ von Peter Richter (nominiert für den deutschen Buchpreis) und „In Zeiten des abnehmenden Lichts“ von Eugen Ruge (Deutscher Buchpreis).

Ein anderes Thema ist auf jeden Fall auch der Feminismus, im weiteren Sinne vielleicht auch die Identität. Maren Kames schreibt vom „Pynk Moon“, Verena Güntner stellt Geschlechterrollen in Frage und Leif Randt Beziehungsmuster. Julia Voss setzt ein neues Schlaglicht in der Kunstgeschichte der klassischen Moderne. Bei den Übersetzern wiederrum wurden zwei Autorinnen wiederentdeckt, die auf ihre Weise auch von der Selbstermächtigung der Frau schreiben. Also abgesehen, dass mich persönlich süffig erzählte Biographien und Wenderomane langweilen und ein wenig wie eine Notwendigkeit auf solchen Listen wirken, eine sehr gelungene Auswahl.

P.S.: Am 11. Februar wurden übrigens nicht nur die Nominierten für den Preis der Leipziger Buchmesse verkündet. Nur wenige Stunden später wurden die Anwärter für den Mühlheimer Dramapreis, einer der wichtigsten deutschen Preise für Gegenwartsdramatik, verkündet. Dazu gibt es später vielleicht auch mehr.

Thilo
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Thilo

Hat sich von einer anfänglichen Faszination für Bücher, über erste Leseerfolge zum Bibliomanen entwickelt. Eigentlich hat der Kulturjournalist nur aus Langeweile gelesen, hier mal ein Buch im Zug, mal eines im Urlaub, mal ein bisschen vorm Einschlafen. Nach unausgegorenen Berufswünschen wie Koch, Hornist oder Schauspieler, verschlägt es ihn zum Studium der Theaterwissenschaft nach Leipzig und in die Redaktionsräume des Ausbildungsradios mephisto 97.6. Ganz beiläufig lässt er hier fallen, dass er eigentlich ganz gerne mal ein Buch lese. Schon einen Monat später leitet er – hopplahopp – die Literaturredaktion und Lesen wird zum Exzess (in den Tagen vor Buchmessen liest er gerne Nächte und Tage durch). Inzwischen spricht er hin und wieder bei MDR Kultur und dem Deutschlandfunk über Literatur, Theater, Musik, neue Medien und alles was die Leute (oder: ihn) interessiert. Sein Ziel: Der nächste Marcel Reich-Ranicki (und ein bisschen Gerhard Stadelmaier) werden – nur besser aussehend … und vielleicht etwas umgänglicher. So lange vergnügt er sich weiter auf schraeglesen.de

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