Bewegung und Stillstand

Ich bin begeistert von Mythen, von dem Urmenschlichem und dem Überzeitlichen, das dort immer noch behandelt wird. Und ich bin ein großer Fan des Schriftstellers, vor allem des Dramatiker Roland Schimmelpfennig. Am Staatsschauspiel Dresden kam nun beides zusammen in der Uraufführung von „Odyssee“.

Foto: Sebastian Hoppe

Ich komme an – mit etwas Verspätung, denn es ist schon die zweite Vorstellung der „Odyssee“ von Roland Schimmelpfennig. Eigentlich ganz passend bei einem Abend über einen Mann, der sich um zehn Jahre verspätet hat. Spaß beiseite, ich war zum Zeitpunkt der Premiere am vergangenen Samstag einfach verhindert und wollte aber dennoch unbedingt etwas zu dieser Uraufführung machen. Ich komme also ins Staatsschauspiel Dresden mit jeder Menge Text im Kopf: Nein, ich habe Homers Original vorher nicht noch einmal gelesen. Ich glaube, das habe ich nie wirklich, höchstens Stückweise. Aber ich habe in meiner Jugend eine umfassende Lesung gehört, habe eine Comicadaption gelesen, kenne die Geschichten um die Sirenen, die Zyklopen, die Zauberin Kirke, die Prinzessin Nausicaa, Scylla und Charybdis und die Nymphe Kalypso. Ich habe ein wunderbares Pop-Up-Buch zu einem der ältesten Bücher der Menschheit. Ich habe „Ulysses“ von James Joyce habe einen Band mit Theaterstücken zur Odyssee gelesen (bei denen auch Schimmelpfennig bereits vertreten war), sowie den Text zum heutigen Abend. Kurz bevor es losgeht, lese ich noch die Texte des Programmheftes, die mir etwas über die narrativen Spiegelungen erzählen, Odysseus als Prototyp des homo oeconomicus zeigen und die literarische Selbstdarstellung Griechenlands analysieren.

Ich verrate – was alle schon wissen: Das war notwendige Vorbereitung. Schimmelpfennigs Texte funktionierten schon immer auf mehreren Ebenen und haben die aristotelischen Regeln zu ihrem Besten verletzt. Die Figuren verwandeln sich bei ihm beständig von überzeitlichen Erzählern zu handelnden Figuren, von mythischen zu alltäglichen. Seine “Odyssee” besteht aus verdichteten Szenen aus Homers Vorlage, nicht unbedingt in der klassischen Reihenfolge. Strukturell verbunden werden diese einzelne Szene durch das wiederholte auftreten der Göttin der Morgenröte Eos, die auch immer wieder zum Aufbruch gemahnt und den ständigen Treffen Penelopes mit einem Lehrer aus Ithaka, der seiner Geliebten Geschichten vom Städtezerstörer Odysseus erzählt.

Foto: Sebastian Hoppe

Ich sehe – in einen Würfel aus hellem Holz, vielleicht ist es das innere des trojanischen Pferdes, das Odysseus vielleicht nie wirklich verlassen hat, wo es doch seine größte Schöpfung ist. Das Bühnenbild von Karoly Risz besteht also drei überdimensionierte hölzerne Quadraten aus lauter kleinen hölzernen Quadraten. Eine Platte liegt auf als Spielfläche auf dem Bühnenboden, eine Spitze ragt etwas in den Zuschauerraum. Die anderen beiden bilden im rechten Winkel stehend den Hintergrund. Die Kostüme von Susanne Uhl sind ziemlich unauffällig: ein älterer Schauspieler und eine ältere Schauspielerin in schlichter, schwarzer Kleidung eröffnen den Abend neben der Spielfläche auf dem schwarzen Bühnenboden stehend. Auch die restlichen sechs Darsteller, drei Männer und drei Frauen, sind relativ alltäglich gekleidet in farbigen Hosen und weißen Hemden. Oft treten sie an die Rampe um ihren Text zu deklamieren, doch als Ensemble bilden sie immer wieder Konstellationen: Sie liegen in einander verkeilt in der hinteren Ecke der Kulisse, sie lehnen verkrümmt an der Wand und wandern danach parallel zu den Holzkanten von einer Seiten zu anderen, wobei sie immer mehr in eine tierische Haltung rutschen. Gegen Ende des Inszenierung beginnen hinter den Holzwänden Sterne zu leuchten und der Würfel öffnet sich. Dahinter stehen Unmengen an Koffern in allen Farben – ein Transitraum, der zeigt, dass diese Geschichte nie wirklich zu Ende ist.

Ich höre – fast nur den Text, der weniger dramatisch sondern vielmehr episch die wichtigsten Stationen der Odyssee anschneidet. Der Regisseur Tilmann Köhler konzentriert sich auf die Darsteller und ihre Stimme, nur selten gibt es Einspieler oder Soundeffekte, die auch nur die Stimmen unterstützen, die den Großteil des Abends tragen. Köhler findet immer neue Konstellation, wie die Schauspieler den Text deklamieren und sich aneignene, mal als Monolog, mal als Chor, sehr oft als eine Form von Spielszene, in der sich die Figuren den Text gegenseitig erzählen, wobei es dadurch nur selten dialogischer wird. Selbstverständlich sprechen alle Darsteller den Text sauber, es sind Profis und eine textbasierte Herangehensweise. Dennoch mangelt es in meinen Ohren an Spannung: Gerade gegen Ende der Phrasen fallen die Stimmen ab. An anderer Stelle wird mit so viel Überzeichnung gearbeitet, dass die Szene fast schon selbst zur Parodie der eigenen Darstellung wird. Vor allem Moritz Kienemann fällt immer wieder durch sein überzogenes Schreien auf, während Albrecht Goette zwar Präsenz auf der Bühne hat, aber irgendwie unterspannt wirkt. Inwiefern das auf mangelnde Fähigkeit der Darsteller zurückzuführen ist (unwahrscheinlich) oder einem seltsamen Zugang des Regisseurs zuzuschreiben ist, weiß wohl nur das Produktionsteam.

Ich beobachte – eine Inszenierung, die auf pures Schauspiel setzt. Keine Materialschlacht in der Ausstattung, keine großen Bühneneffekte außer unauffälligen Lichtstimmungen, keine Videoeinspieler und schon gar keine Live-Kamera, keine überhöhten Bilder. Der Text ist die alles bestimmende Grundlage für diesen Theaterabend, nach der Tilman Köhler unterschiedliche Konstellationen für seine Darsteller entwickelt, mal sind es relativ statische Spielsituationen, wenn eine Darstellerin als Penelope an der Rampe steht und der Abwesenheit ihres Mannes nachspürt und zwei andere Schauspielerinnen versetzt hinter ihr stehen und immer neue Möglichkeiten für das lange ausbleiben präsentieren. Köhler nutzt den Text nicht, um eigene Visionen zu entwickeln, sondern arbeitet sehr geschickt die Strukturen von Schimmelpfennigs Odyssee-Adaption heraus. Dabei lässt er den Darstellern scheinbar Raum einen eigenen Zugang zum Text zu entwickeln, zumindest gibt es Moment, die aus einer Improvisation heraus entstanden sind. Doch mit einem Auge für Details setzt Köhler auch immer wieder einen Fokus auf tiefer liegende Themen, die Schimmelpfennig in seinem Text anspricht. Laut schreien die Männer “In einer Zeit der Ortlosigkeit muß der Begriff Heimat neu erfunden werden.” Das ständige Wechselspiel von Lüge und Wahrheit wird hervorgehoben, durch das übertriebene Spiel der Mannschaft und durch die Penelope, die sich immer wieder Geschichten von ihrem Liebhaber erzählen lässt. Insgesamt erzählt diese Produktion von einer großen Ortlosigkeit in der Welt, die Erfindung der eigenen Geschichte, der eigenen Herkunft. Gleichzeitig zeigt sich im Wesen des Odysseus eine große Unzufriedenheit, er zweifelt seine eigene Wahl an (seine fixe Idee, er hätte auch Lehrer werden können, kann als endgültige Anspielung auf Joyce’ Ulysses gelesen werden) und wird getrieben von einem Gefühl, dass er nicht ankommt.

Ich fühle – mich recht schnell gelangweilt. Vielleicht bin ich daran auch selbst schuld, weil ich mich selbst um das Moment der Überraschung betrüge, weil ich die unbekannten Texte schon vorher studiere und ich mir die Frage, was wohl als nächstes kommt, gar nicht erst stellen muss. Manchmal muss ich lachen, Situationskomik, die ihren Witz vor allem aus Übertreibung bezieht. Zum Beispiel wenn einer der Männer Nausicaa verkörpert und dabei geschickt überzogen die Klischees von Teenager-Mädchen nutzt. Manchmal gibt es einen kurzen Moment der Erkenntnis, diese kleine Verwirrung, in der ich feststelle, wie heutig die Geschichte ist und wie gut Schimmelpfennig das in seinem Text herausarbeitet. Kurz vor dem Ende fühle ich auch abseits des analytischen Besucherblicks etwas Traurigkeit, regelrechtes Mitgefühl mit der Rastlosigkeit des Odysseus, der so lange Koffer von der Hinterbühne an die Rampe trägt, bis die sechs jungen Darsteller alle Koffer von der Bühne entfernen, indem sie sich auf die Seitenbühnen werfen.

Foto: Sebastian Hoope

Ich sage – auch als Fan von Schimmelpfennigs Texten und seiner Art zu schreiben, dass dieser Text zwar solide, aber alles andere als großartig ist. Natürlich hat der Autor es geschafft, zentrale und vor allem heutige Aspekte der Vorlage in seinem Text herauszuarbeiten. Doch es ist eben auch nicht mehr: Schimmelpfennig pointiert nur was von vornherein in der Odyssee zu finden ist, ohne wirklich etwas eigenes hineinzubringen. Genauso gut hätte sich das Dresdener Staatsschauspiel dazu entscheiden können, den Originaltext als Grundlage einer Bühnenadaption nutzen zu können, ohne noch einen Autoren dazwischen zu schalten. Ebenso solide ist Regisseur Tilmann Köhler mit dem neuen Stück umgegangen. Der Umgang mit den Schauspielern hat zwar nicht immer zu darstellerischen Höhenflügen geführt, weswegen der Abend auch eher durchwachsen wirkt. Doch darüber hinaus hat Köhler dem Text, wie oben beschrieben auf bestmögliche Art gedient. Am Ende gibt es jedoch kaum neue Erkenntnisse, weder über die Welt noch über die Odyssee. Höchstens das Quäntchen Kapitalismuskritik zum Schluss wirkt etwas gewinnbringend: Wie oben schon angeschnitten wurde Odysseus von Adorno und Horkheimer als erster Homo oeconomicus gelesen, der als “listiger Einzelgänger” sich die Welt unterwirft. Als solcher steht er am Ende und wird getrieben von einem Aufbruchswillen, von dem inneren Zwang immer weiter zu müssen. Die Morgenröte ruft ihm, “sie flüstert vom Aufbruch”.

Odyssee von Roland Schimmelpfennig, inszeniert am Dresdener Staatsschauspiel von Tilmann Köhler

Thilo
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Thilo

Hat sich von einer anfänglichen Faszination für Bücher, über erste Leseerfolge zum Bibliomanen entwickelt. Eigentlich hat der Kulturjournalist nur aus Langeweile gelesen, hier mal ein Buch im Zug, mal eines im Urlaub, mal ein bisschen vorm Einschlafen. Nach unausgegorenen Berufswünschen wie Koch, Hornist oder Schauspieler, verschlägt es ihn zum Studium der Theaterwissenschaft nach Leipzig und in die Redaktionsräume des Ausbildungsradios mephisto 97.6. Ganz beiläufig lässt er hier fallen, dass er eigentlich ganz gerne mal ein Buch lese. Schon einen Monat später leitet er – hopplahopp – die Literaturredaktion und Lesen wird zum Exzess (in den Tagen vor Buchmessen liest er gerne Nächte und Tage durch). Inzwischen spricht er hin und wieder bei MDR Kultur und dem Deutschlandfunk über Literatur, Theater, Musik, neue Medien und alles was die Leute (oder: ihn) interessiert. Sein Ziel: Der nächste Marcel Reich-Ranicki (und ein bisschen Gerhard Stadelmaier) werden – nur besser aussehend … und vielleicht etwas umgänglicher. So lange vergnügt er sich weiter auf schraeglesen.de

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