Montagsfrage: Eine Frage der Perspektive

Ich, Du, Er/Sie, Wir, Ihr, Sie. Die Montagsfrage von Buchfresserchen fragt nach Erzählperspektiven. Ich versuche mich in einer literarischen Antwort und nutze das, um zu erklären, warum ich so wenig geschrieben habe.

Ein später Morgen

Er war spät nach Hause gekommen. Er war beruflich in Oberfranken unterwegs und hatte einfach keine Lust, sich dort noch einmal eine Übernachtung zu suchen. Also machte er sich auf den Weg Richtung Nordosten. Allerdings hatte er kein Navi und musste zu schnell Entscheidungen, als dass eine Straßenkarte oder ein Kompass hätte Abhilfe schaffen können. So stöhnte die Stadt Nürnberg genervt und irritiert, als er immer wieder seine Schleifen durch die Autobahnauf- und -abfahrten zog, weil er die Schilder in der Dunkelheit immer zu spät und auf der falschen Seite der Abzweigung entdeckte. Doch kurz nach zwei parkte er das geliehene Auto wieder nahe dem Platz, von dem er es am frühen Morgen weggefahren hatte. Er stapfte die Treppen herauf, zog sich aus und ließ sich auf die Decke fallen, die auf dem Bett ausgebreitet lag. Er schlief sofort ein, erleichtert, dass er es bis hierhin geschafft hatte.

Sein Schlaf wurde zwar am folgenden Morgen einmal gestört, aber abgesehen davon hielt er bis zwölf Uhr mittags. Er war also wach, hatte aber noch nicht genug Elan oder Kraft, um aufzustehen. Glücklicherweise lag sein Laptop genau neben ihm und genoss es ebenfalls, mal nicht herumgeschleppt zu werden, wobei er bereits am vorherigen ausruhen konnte – allerdings ohne den Komfort eines angeschlossenen Netzteils. Er klappte den Laptop auf und schaute nach der Montagsfrage, die er schon die letzten Wochen nicht beantwortet hatte.

Verpasste Antworten

Dabei gab es Antworten, die er gerne geschrieben hätte: „Gibt es ein Buch, das du gerne verfilmt sehen möchtest?“ Er dachte an seine Lieblingsbücher, doch die meisten schätzte er weniger wegen ihrer Handlung, sondern eher wegen ihrem Umgang mit der Sprache. Bei „House of Leaves“ waren es die Spielereien, die teilweise an konkrete und visuelle Poesie erinnerten. Wie das in der angekündigten Serie aussehen soll, war ihm schleierhaft. Doch es gab Comics, die er sich auch bewegt vorstellen könnte, so wie „Fables“. Er wusste natürlich, dass es schon Serien, wie „Once upon a Time“ gab (die etwas zu sehr durch die Disney-Schablone gepresst war) oder „Grimm“ (für die „Fables“ jedoch höchstens eine Inspiration gewesen sein kann), doch das war nicht das richtige. Aber irgendwie erschien ihm die Antwort zu banal.

„Gibt es einen Autor, mit dem ihr im Zwiespalt seid ihn zu lesen, wegen seiner persönlichen Ansichten?” Diese Frage war viel zu kompliziert, um sie zwischen Tür und Angel zu beantworten, aber mehr Raum stand ihm nicht zur Verfügung. Dabei dachte er an e.e.cummings, zu dem er vor Jahren einmal arbeiten wollte – ein biographisches Theaterprojekt. Doch dann las er diese seltsamen Kunstmärchen und erfuhr von seinen isolationistischen Ansichten während des Zweiten Weltkrieges. Er las immer noch cummings, aber wollte nichts mehr von dem Menschen dahinter wissen. Er dachte an Wagner, dessen Musik er zwar schätzte. Wenn er das jemandem sagte, erwähnte er immer, ohne eine Sekunde zu verschwenden, dass er den Mensch jedoch verachte. Wie er es mit einem befreundeten Podcaster schon einmal über Twitter festgestellt hatte: Man hört Wagner, trotz Wagner und nicht wegen.

Alles einfache Beispiele und keine endgültigen Entscheidungen. Doch er dachte auch an Simon Strauss, dessen Buch „Sieben Nächte“ und an die Rich Kids of Literature. Der eine klingt manchmal zu konservativ, die anderen schwingen so aggressiv ihre Moralkeule, dass es aussieht, als würden sie von ihren eigenen manchmal schwer zu durchschaubaren Tönen ablenken wollen. Er schaffte es einfach nicht sich ein Bild von dieser Lage zu machen und da er mit beiden Seiten Kontakt hatte, wollte er sich nicht im Nachhinein für eine entscheiden.

Jetzt dreht sich die Frage also um Erzählperspektiven: “Gibt es eine Erzählperspektive, die du beim Lesen bevorzugst?”

Perspektivwechsel

Eigentlich habe ich keine Vorliebe, was die Perspektive angeht, zumindest bin ich mir keiner bewusst. Ich habe zwar ein kleines Faible für Briefromane, zu denen eine gewisse Ich-Perspektive natürlich gehört. Aber ich liebe daran vor allem das Authentische, das Diegetische. – Der Text ist echt, auch in der fiktiven Welt gibt es diesen Text. (Habe ich das jetzt verständlich ausgedrückt?).

Im Großen und Ganzen sind mir die Geschichte und die Sprache wichtiger als die Perspektive. Ich würde einem Roman nie mit mehr oder weniger Skepsis auf Grund der Erzählposition. Schon allein weil ich vermute, dass der Autor sich Gedanken darüber gemacht hat und ich diese Entscheidung respektiere. Denn oft verlangt eine Geschichte nach einer bestimmten Position, weil jede ihre eigenen Vorteile und Gefahren hat.

Das Ich ermöglicht eine andere Sprache, vielleicht auch eine neue Sprache, eine, die mehr an der Realität dran ist. Es verschafft eine unglaubliche Nähe zum Protagonisten. Das Ich des Romans wird zu einem Freund, der mir seine Geschichte erzählt. Das kann aber genauso limitieren, die Sichtweise einschränken. Außerdem ist mir dabei auch der Impetus immer sehr wichtig: Ein Ich-Erzähler ist nicht einfach nur Text, ein Ich-Erzähler hat einen eigenen Charakter. Ich will verstehen, warum etwas erzählt. ich muss spüren, dass in der Figur ein Zwang besteht, die eigene Geschichte zu erzählen.

Die omnisziente Stimme hingegen ermöglicht ganz andere Geschichten, voller Figuren und deren Beziehungen. Manchmal ist dieser Erzähler auch gar nicht so allwissend, sondern berichtet mit großer Objektivität. Das birgt die Gefahr, dass der Autor sein Personal viel genauer im Blick behalten muss, der Autor kann sich eben nicht einfach in die Figur hineinversetzen und aus ihr heraus schreiben. Stattdessen muss er aufpassen, dass nicht alles zu konstruiert wirkt.

Doppelbelichtung

Wer mich schon länger auf dieser Seite begleitet, der weiß natürlich, dass ich am meisten Texte mit ungewöhnlichen Perspektiven. Ich lese gerne Texte, mit mehreren Erzählperspektiven. Zum Beispiel zwei Ich-Erzähler, die bei von unterschiedlichen Seite die Geschichte erzählen, wie in Pavićs „Die inwendige Seite des Windes“ oder Danielewskis „Only Revolution“.

Terezía Mora treibt es noch weiter: In ihrem Roman „Das Ungeheuer“ kombiniert sie ihren Ich-Erzähler mit einem, der wesentlich mehr weiß. In einem Interview hat sie mir gegenüber durchblicken lassen, dass ihr der Ich-Erzähler zu einfach war, sie dem allwissenden Erzähler aber nicht vertraut, dass er ihr zu aufgesetzt ist. So klingt der Roman so, als ob ein Geist neben dem Protagonisten Daniel Kopp hergeht und ab und zu die Erzählung übernimmt. Auch Anne Weber vermischt in ihrem Roman „Kirio“ allwissenden und Ich-Erzähler. Denn die Erzählstimme, die uns sonst immer so ominös vollquatscht, beginnt auch einmal sich selbst zu hinterfragen.

Angesprochen

Paul Auster wechselt die Perspektiven munter in seinem Roman „Unsichtbar“. Er beginnt mit einem Ich und endet mit einem Er, dazwischen berichtet er mit einem Du. Vielleicht kennst Du das aus Spielebüchern. Und hier zeigt sich Dir schon das Interessanteste an dieser Perspektive. Während der Ich-Erzähler wie ein Teich ist, in den Du nach Belieben reinspringen kannst oder ihn nur betrachtest, ist der Du-Erzähler wie ein schwarzes Loch, das Dich einsaugt, wenn Du ihm zu nahe kommst. Hinzu kommt die Faszination für das Seltene: Du hast schon unzählige Romane mit ich und er und sie gelesen, aber nur selten einen, der genau Dich anspricht.

Einbezogen

Ähnlich selten ist die erste Person Plural – das Wir. Es hat auf uns eine ähnliche Sogwirkung wie das Du, aber gleichzeitig ist es von mystischer Kraft. Das Du soll in uns Fantasien wecken, das Wir macht uns zu einem Teil einer verschworenen Gruppe. Es erzählt uns von einer Identität, die über das begrenzte Ich hinaus geht und deswegen auch als Erzählung eine immense Kraft ausstrahlt. Heinz Helle lässt seine Überlebenden in „Eigentlich müssten wir tanzen“ zeitweise in einem Wir sprechen. ominöser wird es in „Maria von den abgesägten Gewehrläufen“ von Ricardo Adolfo, wo sich das Wir gar nicht erst in verschiedene Identitäten auflöst. Wir hören den Chor der antiken Tragödie, die die Gesellschaft präsentiert, aber nicht unbedingt alle, sondern vielleicht nur einen Teil, zu dem wir in diesem Moment auch gehören.

Die Frage, die bleibt

Während er das schrieb dachte er an das Stück „Beben“ von Maria Milisavljevic, das vor Jahren bei den Mühlheimer Theatertagen ausgezeichnet wurde und ebenfalls in einem mysteriösen Wir spricht. Er mochte den Text, fand es aber als Beispiel nicht ganz so passend. Zum einen weil ein Wir im Theater doch eine andere Wirkung hat und weil man den Text nicht einfach so kaufen kann.

Vor allem ärgerte er sich jedoch, dass inzwischen anderthalb Tage vergangen waren, weil ständig etwas dazwischen kam und seine Antwort eben doch länger wurde, als er erwartet hatte. Und wofür? Das fragten sich die Lesenden, die den Tab nicht gleich wieder geschlossen hatten, nachdem sie gesehen hatte, wie klein der Scrollbalken an der Seite war. Die übriggeblieben fragten sich, was sie aus dieser Ansammlung von Titeln in einer pseudo-literarischen Abhandlung subjektiver Natur mitnehmen sollten. Ja, was eigentlich?

Thilo
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Thilo

Hat sich von einer anfänglichen Faszination für Bücher, über erste Leseerfolge zum Bibliomanen entwickelt. Eigentlich hat der Kulturjournalist nur aus Langeweile gelesen, hier mal ein Buch im Zug, mal eines im Urlaub, mal ein bisschen vorm Einschlafen. Nach unausgegorenen Berufswünschen wie Koch, Hornist oder Schauspieler, verschlägt es ihn zum Studium der Theaterwissenschaft nach Leipzig und in die Redaktionsräume des Ausbildungsradios mephisto 97.6. Ganz beiläufig lässt er hier fallen, dass er eigentlich ganz gerne mal ein Buch lese. Schon einen Monat später leitet er – hopplahopp – die Literaturredaktion und Lesen wird zum Exzess (in den Tagen vor Buchmessen liest er gerne Nächte und Tage durch). Inzwischen spricht er hin und wieder bei MDR Kultur und dem Deutschlandfunk über Literatur, Theater, Musik, neue Medien und alles was die Leute (oder: ihn) interessiert. Sein Ziel: Der nächste Marcel Reich-Ranicki (und ein bisschen Gerhard Stadelmaier) werden – nur besser aussehend … und vielleicht etwas umgänglicher. So lange vergnügt er sich weiter auf schraeglesen.de

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