Gesehen und doch nicht gesehen

Es ist nicht einfach nur eine Geschichte, es sind gleich drei, die Marie Malcovati in dem schmalen Roman „Nach allem, was ich beinahe für dich getan hätte“ versammelt. Der Verlag beschreibt es als „Dreiecksgeschichte mit toten Winkeln“, denn der Leser muss immer wieder die Perspektive wechseln. Ich habe auf der Leipziger Buchmesse mit der jungen Autorin gesprochen.

Ein Bahnhof ist ein seltsamer Ort: Schon von Natur aus lädt er nicht zum Bleiben ein, vielmehr rennen die Menschen aneinander vorbei. Umso besser ist er natürlich für einen Roman. Jeden Tag treffen hier tausende Menschen aufeinander, die sich zwar ansehen, aber nie tief blicken lassen. Darüber hat Marie Malcovati ihren Roman geschrieben.

Es geht darum, was man sich so für Vorstellungen von Leuten macht, die man sieht und die sich oft als falsch erweisen. Wenn man versucht jemanden einzuordnen, den man vor sich hat und man merkt, dass da was anderes dahinter steckt und dann wieder was anderes und dass es dann schwierig ist, eine Geschichte zu erfinden, nur weil man jemanden sieht. Das ist ja eigentlich das, was Marotti versucht, eine Geschichte zu erfinden. Was dann aber am Schluss gar nichts mehr mit dem Auftrag zu tun hat, weil ihm die Aktivisten ziemlich egal sind.

Beat Marotti ist Kommissar bei der Basler Polizei, die einen Anschlag am Bahnhof vermutet. Deswegen wird Marotti zur Überwachung abgestellt. Dabei entdeckt er auch die beiden Einzelgänger Lucy (eine Dolmetscherin, die den Tod ihrer Großmutter verarbeiten will) und Simon (der etwas abgefallene Spross einer Zahnpasta-Dynastie). Auch die beiden beobachten sich zunächst aus der Entfernung, um dann ganz langsam ein Gespräch anzufangen. Sie wagen den gefährlichen Schritt.

Es ist so eine Desillusionierung, man kann sich was schöneres gedacht haben über die Person, die man nur sieht und mit der man nicht spricht. Die Vorstellung ist ja in Sicherheit, solange man nicht in Kontakt tritt. Aber in dem Moment muss man sich auf jemanden einlassen und das ist schon anstrengend. Deswegen macht Marotti das nicht. Es liegt auch jenseits seiner Kontrolle, weil dann wäre er nicht mehr derjenige, der das lenken könnte.

Denn Marotti bleibt in seinem Büro. Seine Augen sind die Kameras im Bahnhof und sein Arm seine Assistentin, die er gelegentlich rausschickt. Über das gegenseitige Beobachten verbindet die Figuren viel mehr ihr Beobachten der Welt. Sie erinnern sich an die Schreckensnachrichten aus aller Welt, aber sie sehen sie wie durch einen Schleier. Wie soll sich die Welt auch dadurch verändern, dass wir alles besser im Blick haben können.

Ich befürchte es macht eigentlich nichts, es berührt einen dann immer weniger. Es geht ja auch – glaube ich – sehr viel darum, dass all diese Figuren verpasste Chancen haben, die sie so mit sich rumtragen, die sie beinahe getan haben, aber dann eben nicht. Und ich finde, dass es einem oft selber so geht, wenn man Nachrichten sieht, man das Gefühl hat, man müsste mal irgendwas machen. Dann am Schluss macht man es aber doch nicht, man weiß nicht wie. Das ist dann diese Starre, in der die Figuren dann verharren. Sie sitzen dort und wissen, dass es nicht richtig ist, aber sind trotzdem unglaublich passiv. Die beiden können sich dann ja befreien, aber Marotti eben nicht: Er verharrt einfach immer weiter in dieser Position. Er bleibt immer in der Position, der nur zuschaut aber nichts macht. Also er greift nicht ein und ist deswegen die tragischste Figur von allen.

Die tragisch-komische Figur des Kommissar Marotti scheint Malcovati dieser Tage besonders zu beschäftigen. Lucy und Simon kommen nur ganz selten zur Sprache. Alles konzentriert sich auf diesen einsamen Mann, der sich in seiner eigenen Vorstellung von der Welt verliert.

Sein eigentlicher Auftrag gerät ja ziemlich in Vergessenheit. Am Ende kümmert es ihn auch gar nicht mehr, was er da eigentlich machen soll. Er beobachtet ja zum Teil auch wirklich kriminelle Handlungen und es ist ihm einfach egal. Es geht wirklich nicht mehr um seine Arbeit, sondern um ihn eigentlich, um seine persönliche Geschichte und dass er natürlich einsam ist da oben in seinem ‚Häuschen‘, in seiner kleinen Kammer und versucht, Kontakt aufzunehmen, aber ohne, dass man ihn sieht und es hat natürlich irgendwie was Voyeuristisches und auch was sehr Trauriges. Weil er ist der einzige, der nicht gesehen wird und er ist natürlich geschützt, aber es kann ihm auch nichts Gutes passieren.

Nicht so wie zwischen Lucy und Simon, die sich langsam und vorsichtig näher kommen. Zwar spiegelt sich der Titel (weil er so nett ist, nochmal: „Nach allem, was ich beinahe für dich getan hätte”) in allen drei Figuren wieder. Doch vor allem zeigt er sich an Marotti, an seiner traurigen Ehe und vor allem weil er es immer noch nicht schafft aktiv zu werden. Tatsächlich war da zuerst der Titel und dann die Idee, daraus einen Roman zu basteln, erzählt Marie Malcovati:

Der ist mir ehrlich gesagt einfach so eingefallen. Am Anfang war das ein Titel für ein Drehbuch, das ich geschrieben habe und das ich dann aber verworfen habe, weil ich das ganz fürchterlich fand. Und ich habe wirklich versucht, diesen Roman um den Titel herum zu schreiben.

Wie genau sie das gemacht hat, vermag sie allerdings nicht zu erzählen. Sie kommt regelrecht in Erklärungsnot, wenn sie darauf eingehen soll. Sie hat sich diese Figuren ausgedacht, die auch nicht anders hätten sein können und die auch nichts anderes hätten tun sollen – schon allein im Sinne des Romanaufbaus. Sie hat auch keine komplexen Lebensläufe entworfen. Es scheint eher so zu sein, dass sie nur das erfährt, was für den Roman wichtig war. Auch sie war nur kurze Beobachterin.

Das ist ihr allerdings ziemlich gut gelungen. Sehr geschickt lässt Malcovati diese drei Gestalten hier zusammenkommen und verwebt, oder besser: verknotet die drei Leben miteinander. Dabei lässt sie den Leser ganz nah an die Gedanken dieser Figuren herankommen, mit einem sehr genauen, teilweise auch amüsanten Ton.

Sie konnte nicht aufhören, ihren Namen zu ertasten. Viel mehr als ihn hatte sie von sich nicht übrig- Die angeblich seriösere Variante hatte sich zwar auf dem Papier durchgesetzt, wurde aber in Wirklichkeit kaum angewandt. Schon im Kindergarten nannte sie sich selbst Lucy, was ihren Vater des Skeletts wegen freuts, dem er seine Doktorarbeit gewidmet hatte.

Dabei wechselt Malcovati immer wieder den Blickwinkel. Mal hören wir Marottis Gedanken und dann wieder die von Simon.

Es sind schon Schnitte und die werden auch immer schneller.

Daran merkt der Leser vielleicht am meisten, dass Malcovati aus dem Bereich des Drehbuchschreibens. Für sie war der Roman eine willkommene Abwechslung.

Es ist zwischendurch sehr erfrischend, wenn mal etwas ganz alleine machen kann, und nicht auf 25 andere Leute hören muss. Das ist natürlich bei einem Drehbuch so, dass man vor allem eine Gebrauchsanweisung schreibt für was, was dann hundertmal überarbeitet werden muss. Was schön ist, weil man mit Leuten zusammenarbeitet, was aber auch manchmal ziemlich anstrengend ist.

Auf die Frage, ob man den Roman als Leser nicht auch etwas anders zusammenschneiden könnte, zum Beispiel erst einmal nur den Schritten Marottis folgen, reagiert Marie Malcovati wie auf die meisten Fragen. Mit einem fröhlichen Lächeln und einem leichten Schulterzucken. Also, warum nicht.

Marie Malcovati: “Nach allem, war ich beinahe für dich getan hätte”, Edition Nautilus, 128 Seiten, 16€

Thilo
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Thilo

Hat sich von einer anfänglichen Faszination für Bücher, über erste Leseerfolge zum Bibliomanen entwickelt. Eigentlich hat der Kulturjournalist nur aus Langeweile gelesen, hier mal ein Buch im Zug, mal eines im Urlaub, mal ein bisschen vorm Einschlafen. Nach unausgegorenen Berufswünschen wie Koch, Hornist oder Schauspieler, verschlägt es ihn zum Studium der Theaterwissenschaft nach Leipzig und in die Redaktionsräume des Ausbildungsradios mephisto 97.6. Ganz beiläufig lässt er hier fallen, dass er eigentlich ganz gerne mal ein Buch lese. Schon einen Monat später leitet er – hopplahopp – die Literaturredaktion und Lesen wird zum Exzess (in den Tagen vor Buchmessen liest er gerne Nächte und Tage durch). Inzwischen spricht er hin und wieder bei MDR Kultur und dem Deutschlandfunk über Literatur, Theater, Musik, neue Medien und alles was die Leute (oder: ihn) interessiert. Sein Ziel: Der nächste Marcel Reich-Ranicki (und ein bisschen Gerhard Stadelmaier) werden – nur besser aussehend … und vielleicht etwas umgänglicher. So lange vergnügt er sich weiter auf schraeglesen.de

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