Winterbuchquartett und ein Sommertitel

Bereits zum 15. Mal wird in diesem Jahr der Preis der Leipziger Buchmesse vergeben. Um die ganze Geschichte spannender zu machen und zu Diskussionen anzuregen, werden im Vornherein jeweils fünf Bücher in drei Kategorien nominiert. Ich habe wieder die Belletristik-Kandidaten wie die Spielkarten eines Autoquartetts nebeneinandergestellt.

Die schwarze Petra – „Schäfchen im Trockenen“ von Anke Stelling

Als einziger Nominee dieser Runde ist dieser Roman bereits im vergangenen Jahr erschienen. Vermutlich hat es der Indie-Verlag ursprünglich auf zumindest auf die Longlist des deutschen Buchpreises abgesehen gehabt, auf der die Autorin 2015 auch vertreten war.

Thema: Eine der Autorin nicht unähnliche Schriftstellerin beschreibt ihre Probleme mit dem Künstlerdasein, dem Großstadtleben, der Gentrifizierung und dem Klassendenken der Gegenwart.

Buchanfang: ***

Stelling hat einen guten Einstieg gefunden, ein kleines Ereignis, an dem sich alles erzählt: Ihr Freund, der gleichzeitig ihr Vermieter ist, schmeißt sie ganz unpersönlich raus. Ich bin gleich drin in der Geschichte und merke, wie die Ich-Erzählerin noch versucht mit dem Ereignis umzugehen. Aber es sind mir doch zu viele Floskeln für einen starken Beginn.

Sprachliche Raffinesse: ****

Die Protagonistin Resi erzählt ihrer Tochter Bea ihre Geschichten und Gedanken. Letztlich steht der Roman in der Tradition des Stream of Conciousness – allerdings etwas gebrochen, da wir nicht ihren Gedanken lauschen, sondern lesen, wie sie ihre Gedanken auf Papier bringt. Geschickt, authentisch aber nicht sonderlich innovativ.

Lesefluss: *****

Diese Mischung aus Angeredet sein und Identifikation mit der Figur hat mich in den Bann gezogen. Natürlich ist es diese sehr sprechnahe Sprache, diese sprunghafte sie selbst unterbrechende Erzählen, mit dem ich meine Gedanken fast schon synchronisiert habe.

Spannung/Story: ****

Ich bin etwas unschlüssig. Auf der einen Seite war ich gespannt, was die Figur mir erzählt. Ich war interessiert an ihrer Geschichte. Doch es ist wegen des Stils nicht immer leicht der Geschichte zu folgen – was den Roman aber clever macht. Doch es lässt sich festhalten: Ich habe das Buch nicht unbedingt aufgrund der Story gelesen.

Relevanz: ****

Einen Punkt Abzug gibt es eigentlich nur, weil die Thematik so alt ist. Ja, fast schon ausgelutscht. Aber gleichzeitig pocht Stelling sie auf ihre aktuelle Bedeutung ab. Gerade die Durchlässigkeit der Klassengrenzen schüren Sorgen: Angst vor dem Abstieg, der Druck des Aufstiegs, die Unsicherheit den anderen gegenüber.

Buchende: *****

Daran gibt es einfach nichts zu meckern. Natürlich bin ich vor Überraschung vom Stuhl gefallen. Doch es war dem Roman angemessen und rund. Denn das Ende greift den Anfang wieder auf und macht das ständige Kreise deutlich.

Anke Stelling: Schäfchen im Trockenen, Verbrecher, 272 Seiten

Ein Spaziergang: „Der traurige Gast“ von Matthias Nawrat

Da wir schon mit dem ‚ältesten‘ Buch auf der Liste angefangen haben, machen wir doch chronologisch weiter. Es ist bereits Nawrats vierter Roman. Seine bisherigen Veröffentlichungen verbindet nicht vieler, außer dass er immer wieder einen neuen Ansatz zum Erzählen gesucht hat.

Thema: Nawrat erzählt die Stadt (Berlin) und die Geschichten, die sich hier verknüpfen und überlagern. Nawrat lässt eine Art Alter Ego durch Berlin wandern, wo er einer Architektin, dem Tankstellen-Angestellten Dariusz und vielen anderen begegnet.

Buchanfang: ****

Ich gebe zu, ich musste den Anfang ein zweites Mal lesen, um seine wunderbare Konstruktion zu verstehen. Denn Nawrat deutet hier bereits viel an, das erst später in seinem Roman deutlich wird: Die Geschichte der Stadt, die noch in die Gegenwart ragt und die Besonderheit des Ortes als Begegnungsstätte und Geschichtengeflecht. Aber er hat mich eben auch nicht direkt überzeugt.

Sprachliche Raffinesse: ****

Ich will ehrlich sein: den einen Punkt Abzug gibt es nur, weil sich sein zweiter Roman durch eine derart originäre Sprache auszeichnet, die schwer zu erreichen ist. Dennoch zeigt sich Nawrat hier als Sprachkünstler, der sein Fach beherrscht. Jedes Wort sitzt an der richtigen Stelle und erhebt sich manchmal von der reinen Beschreibung zur poetischen Betrachung.

Lesefluss: ****

Der Roman hat genau das richtige Tempo, für das was er erzählt. Wäre es Musik, hätte der Komponist es mit Andante überschrieben. Und er ist so stetig, dass Leser*innen immer weiter mit dem Erzähler durch die Stadt wandert. Doch dabei müssen sie darauf achten, dass sie bei all den Begegnungen nicht die Orientierung verlieren.

Spannung/Story: ****

Es ist schwer, diese Kategorie auf diesen Roman anzuwenden, denn es ist vielmehr ein Story-Geflecht, dass es gar nicht darauf anlegt spannend zu sein oder eine vorwärtstreibende Handlung setzt. Es ist gerade dieses Verflochtene von Biographien, das mich als Leser interessiert.

Relevanz: ****

Dieser Roman hätte im schlechtesten Sinne aktuell sein können: denn er thematisiert auch den Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt 2016. Doch angenehmerweise bleibt er eine Hintergrund, so wie für die meisten Menschen. Das weist auf die größere Erzählung dieser Geschichte: die Einwanderung und die Vielgesichtigkeit einer Stadtgesellschaft.

Buchende: ***

Wie sollte das Ende eines Romans, der Ereignisse aneinanderreiht ein großes Ende haben und so geht der Spaziergang einfach zu Ende…

Matthias Nawrat: Der traurige Gast, Rowohlt, 304 Seiten

Ausgegraben: Kenah Cusanits Debüt „Babel“

Kenah Cusanit ist sozusagen der Neuling dieser Runde. Die Journalistin, die altorientalische Sprachen studierte, veröffentlichte zuvor in dem kleinen Verlag Hochroth einige kurze Texte. Während ihre Mitnominierten schon öfter für Buchpreise nominiert waren, tritt sie mit ihrem Debüt zum ersten Mal an.

Thema: Deutsche Archälogen graben zur Jahrhundertwende den Turm zu Babel im Orient aus.

Buchanfang: **

Vielleicht lag es auch an mir, aber ich habe sehr lange gebraucht um in den Roman reinzukommen, ich musste mich regelrecht reinkämpfen. Bestimmt hilft es, vorher zu wissen, dass es um den historisch verbürgten Robert Koldewey geht und man vielleicht auch an den Fakten dieser Situation interessiert ist.

Sprachliche Raffinesse: ****

Dabei bleibt der Roman – auch am Anfang nicht – so trocken. Denn Kenah Cusanit besitzt durchaus ein Gespür für Sprache. Sie streut poetische Beschreibungen ein. Sie entwickelt abwechslungsreiche Erzählungsformen und bleibt dabei nicht immer vollkommen ernst, sondern verleiht ihrem Protagonisten eine gewisse Leichtigkeit.

Lesefluss: ***

Dadurch hatte die Geschichte stärkere und schwächere Stellen, wo der Fluss zumindest bei meinem Lesen auch hin und wieder ins Stocken kam.

Spannung/Story: ****

Cusanit hat den Stoff einfach durchdrungen und erzählt ihn solide mit der gebotenen Beobachtungsgabe. Sie beschreibt, wie Koldewey in seinem engen Büro sitzt, wie seine Fachbücher konsultiert, sich mit der Ansprüchen aus der Heimat und den lokalen Herausforderung umgehen muss.

Relevanz: ***

Ich war gewillt diesem Buch ein schlechteres Zeugnis für die Relevanz auszustellen. Nett, aber was hat mir das schon zu sagen. Erst die Zeit öffnete mir die Augen, dass die beständig erwähnte Museumsinsel noch heute in Berlin zu besuchen ist. Insofern ist „Babel“ auch eine Auseinandersetzung mit der kolonialen Vergangenheit heutiger Museumsgüter.

Buchende: ****

Das Ende ist nicht überraschend, aber solide. Die Stärke liegt in der Handlung selbst, die gut zu einem Ende findet.

Kenah Cusanit: Babel, Hanser, 272 Seiten

Perspektivwechsel: „Die Geschichte der Frau“ von Feridun Zaimoglu

Er ist wohl der geübteste Nominierte dieser Runde, denn Zaimoglu war schon dreimal auf der Longlist des deutschen Buchpreises. Mit „Die Geschichte der Frau“ liefert er das ungewöhnlichste Buch: Eine Art Konzeptalbum mit Kurzgeschichten.

Thema: Die Geschichte der Menschheit wird in der Regel als die Geschichte starker Männer erzählt, die Großes geleistet haben. Zaimoglu sucht nach Pendants und weiblichen Vertretern und versucht das weibliche Schweigen, wenn schon nicht aufzubrechen, so zumindest sichtbar zu machen.

Buchanfang: ****

Richtiger wäre es in der Mehrzahl zu sprechen, die Bewertung ist eher als Durchschnitt zu sehen. Eigentlich beginnt Zaimoglu seine zehn Geschichten immer recht stark mit klaren Bildern, die direkt eine Stimmung aufmachen. Dabei ist nicht jede gleich stark. So sind beispielsweise die ersten beiden Geschichten zu stark vom Blick auf den Mann geprägt.

Sprachliche Raffinesse: ****

Immer wieder zeigt sich Zaimoglu als Sprachmagier, der es versteht mit der Sprache zu spielen. So versuchen sich die Geschichten der jeweiligen Zeit anzugleichen. Dabei bewahrt der Autor aber auch immer einen eigenen Ton, der sich vor allem durch einen eigensinnige Satzstellung und starke, manchmal auch neugeschöpfte Worte auszeichnet. Manchmal ist die Sprache jedoch zu schwerfällig. Und das weibliche Ich erscheint mir oft etwas überbetont und ungelenk.

Lesefluss: ***

Dadurch wird auch der Lesefluss immer wieder etwas gehemmt, denn gleichzeitig gibt es nur selten Momente, in den wirklich Interesse am Fortgang der Geschichte aufkommt – denn der Perspektivwechsel erzählt keine gänzlich neue Geschichte.

Spannung/Story: ***

Zippora versucht für ihren Mann Moses zu verhandeln. Lore Lay versucht sich den Avancen eines Mannes zu erwehren, der sie später zu besungenen Sirene macht. Valerie Solanas versucht sie gegen die künstlerische Herrschsucht eines Andy Warhols zu erwehren. Die Geschichten plätschern oft nur dahin und kommen meist etwas sperrig daher.

Relevanz: *****

Letztlich trifft Zaimoglu eine wichtige Frage, die seit einigen Jahren unter dem Begriff „herstory“ verhandelt wird: Die Rolle der Frau in der Geschichte zu zeigen. Im Sinne der Geschlechtergerechtigkeit sollte es vielleicht keine Rolle spielen, ob das ein Mann oder eine Frau macht. Aber irgendwie spielt es doch eine Rolle, weil Zaimoglu es doch sehr vereinnahmt.

Buchende: ***

Der Autor setzt an Umbruchstellen an, die auch Umbruchstellen für die Weiblichkeit darstellen. Aber die kommen in den Geschichten dennoch so konstruiert daher, dass es nicht ganz so reizvoll ist.

Feridun Zaimoglu: Die Geschichte der Frau, Kiepenheuer & Witsch, 400 Seiten

Nochmal alles in einem: „Winterbergs letzte Reise“ von Jaroslav Rudis

In meinen Augen ist Jaroslav Rudiš schon ein Dauergast auf der Leipziger Buchmesse. Doch passend zur Einladung Tschechiens als Gastland auf der Leipziger Buchmesse veröffentlicht der gebürtig tschechische Autor seinen ersten Roman in deutscher Sprache.

Thema: Der Pfleger Kraus begleitet den alten und teilweise senil wirkenden Winterberg auf einer langen Reise durch das heutige und vergangene Europa.

Buchanfang: *****

Der Roman beginnt ohne großes Vorgeplänkel kurz vor dem ersten Etappenziel der Reise. Dennoch ist das erste Kapitel eine geschickte Exposition die schon alle wichtigen Leitmotive beinhaltet: „Die Schlacht bei Königgrätz geht durch mein Herz“, sagt Winterberg gleich zu Beginn.

Sprachliche Raffinesse: *****

Auch sprachlich ist dieser Roman in erster Linie ein Road Novel klassischer Manier. Zwei ungleiche Figuren reisen, unterhalten sich und machen auf dem Weg Bekanntschaften – nicht aufregend. Und doch macht Rudiš immer wieder sehr genaue, lyrische Beobachtungen, die den Text bereichern. Viel wichtiger ist jedoch die fast schon musikalische Struktur: Denn der Text lebt von Wiederholungen und Variationen, wenn sich Winterberg immer wieder in seinen alten Reiseführer vertieft und auf den Spuren der Geschichte wandelt.

Lesefluss: *****

Diese musikalische Qualität sorgt auch für einen angenehmen Lesefluss, der in angenehmem Tempo dahinfließt, denn gerade durch den Ich-Erzähler Kraus, der sich nur langsam von der Begeisterung Winterbergs anstecken lässt, bekommt die Geschichte auch etwas Lässiges und auch immer wieder etwas komisches.

Spannung/Story: ****

Es ist eine Road Novel, der auch nicht wirklich mit seinem Rahmen bricht.

Relevanz: ****

Diese Erzählung ist nicht von sich aufdrängender Aktualität geprägt. Doch unter den Momenten verbirgt sich aber auch eine Erzählung eines gemeinsamen Europas und einer Geschichte, die uns doch bis heute prägt. Wie aber auch bei „Babel“ muss man das auch sehen wollen.

Buchende: ****

Es ist eine Road Novel, insofern lässt sich das Ende schon vermuten. Deswegen wird es aber nicht schlecht, denn Rudis wird hier sprachlich dichter, tippt die Motive an und rundet seine Geschichte geschickt ab.

Jaroslav Rudiš : Winterbergs Reise, Luchterhand, 544 Seiten

Ein Spiel mit den Karten

Im ersten Moment, als ich die Liste gesehen habe, war ich etwas enttäuscht. Wieder sind die weiblichen Autoren in der Minderheit. Nur ein kleiner Verlag hat es auf die Liste geschafft. Doch vor allem hat mir das so oft geschätzte Wagnis bei dieser Buchpreisrunde gefehlt.

Erst nach der Lektüre habe ich erfreut festgestellt, dass zwar bei allen Büchern irgendwie Roman draufsteht, sie sich jedoch meist der einfachen Erzählung verweigern, „Babel“ wird zum Briefroman, „Der traurige Gast“ nutzt eine komplexe Struktur und Zaimoglu entwickelt ein Konzept für seine Geschichten.

Insgesamt gibt es keine Totalausfälle, wenngleich sich über die Qualität von „Die Geschichte der Frau“ streiten könnte. Alle Titel legen einen hohen Standard an, sprachlich und erzählerisch. Ich persönlich sehe aufgrund der starken Form Nawrat sehr weit vorne. Doch gerade beim Vergleich der Parameter schneidet Rudiš mit seiner musikalischen Sprache am besten ab. Und der Gastland- und Europabonus lassen einen Sieg in meinen Augen für möglich erscheinen.

Thilo
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Thilo

Hat sich von einer anfänglichen Faszination für Bücher, über erste Leseerfolge zum Bibliomanen entwickelt. Eigentlich hat der Kulturjournalist nur aus Langeweile gelesen, hier mal ein Buch im Zug, mal eines im Urlaub, mal ein bisschen vorm Einschlafen. Nach unausgegorenen Berufswünschen wie Koch, Hornist oder Schauspieler, verschlägt es ihn zum Studium der Theaterwissenschaft nach Leipzig und in die Redaktionsräume des Ausbildungsradios mephisto 97.6. Ganz beiläufig lässt er hier fallen, dass er eigentlich ganz gerne mal ein Buch lese. Schon einen Monat später leitet er – hopplahopp – die Literaturredaktion und Lesen wird zum Exzess (in den Tagen vor Buchmessen liest er gerne Nächte und Tage durch). Inzwischen spricht er hin und wieder bei MDR Kultur und dem Deutschlandfunk über Literatur, Theater, Musik, neue Medien und alles was die Leute (oder: ihn) interessiert. Sein Ziel: Der nächste Marcel Reich-Ranicki (und ein bisschen Gerhard Stadelmaier) werden – nur besser aussehend … und vielleicht etwas umgänglicher. So lange vergnügt er sich weiter auf schraeglesen.de

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