Die Spirale der Geschichte

Mit “Schlafende Sonne” hat Thomas Lehr einen fordernden Roman vorgelegt: In überbordender Sprache springt er durch das ganze 20. Jahrhundert. Im Interview hat der Autor uns erklärt, warum er auf Absätze verzichtet hat und wie man den Roman am besten lesen soll.

Meinungen und Gedanken zum Roman “Schlafende Sonne”

Wie kann man im Morgengrauen eine Ausstellung eröffnen? Keine gewöhnliche Ausstellung noch dazu, sondern etwas Großes, Museales, Kunstprotziges, ein halbes-Lebenswerk-Guckkasten-Labyrinth, wie es kaum einer je vergönnt wurde! (Sehr kleine Preisschildchen.) Stell dir vor, es geht keiner hin.

Es ist ein sonniger Tag im August des Jahres 2011. Die Künstlerin Milena Sontag will eine Ausstellung der besonderen Art eröffnen, in der Kunst steht, die den Besucher auch an körperliche Grenzen bringt, wenn er sich beispielsweise durch schmale Öffnungen in Räume zwängen muss. Es sind Werke, die Milena als Reaktion auf ihre Erinnerungen geschaffen hat. So bildet dieser einzelne Sommertag, an dem sich die gesamte Handlung abspielt (sofern überhaupt eine vorhanden ist), das Zentrum des Roman “Schlafende Sonne”. Er ist sozusagen der temporale Nullpunkt in einer Erzählung, die das gesamte 20. Jahrhundert durchschreitet. Im Zentrum stehen die Künstlerin, die sich an ihre Zeit in Dresden und das Ende der DDR erinnert, ihr Mann Jonas, der sich als Physiker seit Jahren mit der Sonne beschäftigt, sowie der Philosoph und Lehrer Milenas Rudolf, der sich gerade auf dem Weg ist, um die Ausstellung zu sehen.

Mit einem unterirdischen Schnarren und einem überirdischen Klingelton wechseln die Motive. fünfzig wilde Kongoweiber, auch Männer und Kinder in ihrem Eingeborenendorfe. Wunder der aegyptischen Reisen. der Regent höchstselbst mit aufgezwirbeltem Schnurrbart bei der Besichtigung der flotte, beim Blick auf den Bosporus, als byzantinischer Herrscher drapiert, als Prachthirsch auf jeder Jagd, Prachtbraut auf jeder Hochzeit, Prachtleiche bei jeder Beerdigung. Das prachtvolle Erzgebirge. Die eigene, prachtvolle lunaelectrische Zeugung durch den Schlitz einer langen grünen Prachtunterhose. Bings Kolbendampfmaschine. Ansichten vom deutsch-dänischen Krieg.

Sterne, Sonnen und Spiralen

Der gesamte Roman “Schlafende Sonne” ist durchzogen von derartigen Beschreibungen fiktiver Kunstwerke. In den Arbeiten von Milena Sontag manifestieren sich einzelne Aspekte der Erzählung: Die einzelnen Sequenzen, Abschnitte und Szenen werden in diesem Roman nicht einfach der Reihe nach erzählt, sondern hängen wie Kunstwerke einer Ausstellung nebeneinander. So erschließt sich das Zentrum eines Kapitels nicht immer sofort, noch weniger die konkrete Beziehung zum folgenden und doch entwickelt sich beim Lesen ein größeres Bild. Die Vorstellung des Romans als einer kuratierten Ausstellung kann ein Zugang zu diesem, teilweise doch sehr fordernden, Werk sein. Für den Autor Thomas Lehr war es auch die Möglichkeit seinem Vorhaben gerecht zu werden: Die Geschichte des 20. Jahrhunderts zu erzählen. Neben den Kapiteln, die am zentralen Augusttag spielen, erinnert sich Milena an das Ende der DDR und die schwierige Situation für Künstler, außerdem setzt sie sich für ein Werk mit der Geschichte des Ersten Weltkrieges auseinander.

Lehr springt zwischen diesen Zeiten frei umher, eben von einem Kunstwerk zum nächsten. Für die Anordnung der einzelnen Szenen hat sich Lehr an der Form der Spirale orientiert, wie das vorangestellte Zitat von Louise Bourgeois nahelegt. Das Zentrum dieser Spirale ist eben der Tag der Vernissage, von dem aus der Autor an jeden Ort in der Geschichte springen kann. Das Spannende bei diesem Ordnungsprinzip ist auch die Bedeutung, die der Spirale selbst innewohnt. Während die “Schlafende Sonne” selbst auch ständig über das Leben reflektiert und in gewisser Weise auch über Vererbung im übertragenen Sinne, kann die Spirale als Doppelhelix der DNA gesehen werden. Doch für Lehr bietet die Spirale auch die Möglichkeit, auf kurzem Wege durch die Zeit zu springen und tatsächlich kann die Spirale als Bild für Entwicklung verstanden werden.

Das andere zentrale Bild dieses Romans ist die titelgebende Sonne. Denn das war das andere Ziel von Lehr: In seinem Buch Wissenschaft und Kunst zu verbinden. Das schafft er durch die Ehe zwischen der Künstlerin Milena und dem Astrophysiker Jonas, der seit seiner Kindheit von der Sonne – dem nahen Stern – fasziniert ist. Auch dieses Thema ist sehr geschickt gewählt, nicht nur weil das 20. Jahrhundert auch von der Erforschung von Weltall und Licht geprägt ist. Selbstverständlich ist das Licht auch in der Kunst von großer Bedeutung: Man denke nur an die Beziehung von Licht und Schatten in der bildenden Kunst oder neuartigen Lichtinstallationen. Das Licht stellt gleichzeitig auch immer eine Beziehung zur Vergangenheit her. Denn wenn Jonas in die Sonne schaut, dann sieht er immer auch in die Vergangenheit.

Was ist die Sonne? Eine ständige Explosion? Ich reiste ans Meer und flog in die Luft. Aber sie sprengten nur meine Seele. Danach lag mein Körper nächtelang neben Dir und beleidigte Dich. Es war ein Feuerwerk, sagte ich früher, wenn es gut war. Ich sagte auch: eine Explosion. Eine anhaltende Explosion, eine Sonne in meinem Bauch. Nachdem ich in die Luft geflogen war, ertrug ich es nicht mehr zu explodieren. Keine Sonne mehr. Schlafende Sonne.

Schriftbilder und Bildersprache

Die Vorstellung des Romans als Kunstausstellung beeinflusst auch das Leseerlebnis, genauso dass es hier auf schraeglesen besprochen werden sollte. Wie bei einer Kunstausstellung kann man die Kapitel in beliebiger Reihenfolge als für sich stehende Kunstwerke betrachten. Doch das ist es nicht allein, denn schon ein unbedarfter Blick auf die Seiten, lässt den geneigten Leser an die bildende Kunst denken. Innerhalb der Kapitel hat Thomas Lehr auf Absätze verzichtet, um auf das viereckige von Gemälden anzuspielen. Auf den letzten hundert Seiten von “Schlafende Sonne” schien es dann noch einmal ganz mit dem Schriftsteller durchzugehen: Milena stellt sich vor, wie ein deutscher Pavillon aussehen könnte, der sich mit dem ersten Weltkrieg aussehen könnte und im Roman spricht auf einmal der Kaiser in Fraktur und erhält Depeschen in Courier. Diese Seiten spielen auf fast schon klassische Weise mit der Typografie, sodass die Seiten optische Qualität besitzen.

Die Sprache des Romans ist ebenso bildreich, wie der Inhalt und das nicht nur, weil Thomas Lehr zahlreiche Bilder beschreibt. Auch an den Stellen, die Erinnerungen oder Gegenwart beschreiben wuchert die Sprache. Sie steckt voller Adjektive, beschreibt mehr als sie erzählt und nutzt zahlreiche Bilder, manchmal vielleicht zu viel.

Unsere Liebe war irgendwie schief gehängt und seitlich verrutscht, schmerzhaft verkleinert und grauenhaft umständlich und unzugänglich geworden, so als trügen wir um zwei Größen zu kleine hermetische Ritterrüstungen und suchten fortwährend nach den Dosenöffnern.

Fazit: Ein granitener Brocken

Diese Feststellung wurde bereits öfter gemacht: Der Roman “Schlafende Sonne” fordert und überfordert den Leser. Nach einigen Kapiteln setzte bei mir eine Ermattung ein, die nicht so schnell verflog. Zu sehr wuchert die Sprache, ist mehr darauf bedacht für sich zu stehen, als Handlung zu erzählen. Am stärksten ist der Roman an den Stellen, wo er dem Konzept der Ausstellung am meisten folgt, wo ein beschriebenes Bild zur Erinnerung wird. Denn trotz seines schweren Gewichtes (buchstäblich und bildlich gesprochen) ist “Schlafende Sonne” ein faszinierender Roman. Bestimmt nicht für jeden, viel mehr ist er für Leser von Sprachkunstwerken, die nicht nach schnell konsumierbarer Literatur suchen, doch gerade das macht den Roman “Schlafende Sonne” von Thomas Lehr zu beeindruckender Literatur. Gerade weil er von seinem Leser so viel Zeit verlangt, könnte dieses Werk überdauern.

Thomas Lehr: Schlafende Sonne, Hanser, 640 Seiten, 28€

Thilo
Latest posts by Thilo (see all)

Thilo

Hat sich von einer anfänglichen Faszination für Bücher, über erste Leseerfolge zum Bibliomanen entwickelt. Eigentlich hat der Kulturjournalist nur aus Langeweile gelesen, hier mal ein Buch im Zug, mal eines im Urlaub, mal ein bisschen vorm Einschlafen. Nach unausgegorenen Berufswünschen wie Koch, Hornist oder Schauspieler, verschlägt es ihn zum Studium der Theaterwissenschaft nach Leipzig und in die Redaktionsräume des Ausbildungsradios mephisto 97.6. Ganz beiläufig lässt er hier fallen, dass er eigentlich ganz gerne mal ein Buch lese. Schon einen Monat später leitet er – hopplahopp – die Literaturredaktion und Lesen wird zum Exzess (in den Tagen vor Buchmessen liest er gerne Nächte und Tage durch). Inzwischen spricht er hin und wieder bei MDR Kultur und dem Deutschlandfunk über Literatur, Theater, Musik, neue Medien und alles was die Leute (oder: ihn) interessiert. Sein Ziel: Der nächste Marcel Reich-Ranicki (und ein bisschen Gerhard Stadelmaier) werden – nur besser aussehend … und vielleicht etwas umgänglicher. So lange vergnügt er sich weiter auf schraeglesen.de

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert