Romanquartett und schwarzer Peter 2017: Erzählersuche

Jedes Jahr das gleiche Ratespiel: Fünf Bücher gehen in das Rennen um den Preis der Leipziger Buchmesse und wieder die Frage, wer hat die besten Chancen, wer hat die besten Werte. Es wird verglichen und die Vorteile verglichen. Und wieder werden die Bücher zu flachen Karten und wir schauen, wer die besten Werte hat.

Der schwarze Peter – „118“ von Steffen Popp

Inzwischen gehört es schon zum guten Ton, dass die Jury auch einen Lyrikband nominiert, nachdem Jan Wagner 2015 elegant gewann. Mit „118“ wird es aber jetzt etwas gewagter.

Thema: Es geht hier um die Worte selbst. Popp nimmt sich 118 Worte; er dreht, wendet und umschreibt sie in kleinen Prosagedichen.

Buchanfang: ???

118 Gedichte haben 118 Anfänge, aber kann man bei so kurzen Texten von Anfängen sprechen?

Sprachliche Raffinesse: ****

Sehr geschickt umschreibt Popp Worte, Wörtchen, Wesen, Gegenstände und all das. Er verdichtet seine Elemente (die sich in nachgestellten Titeln offenbaren) zu kleinen Prosagedichten, die in Quadraten auf den Seiten stehen, manchmal noch von weiteren Anmerkungen umflirrt wird. Es sind Assoziationsketten, die manchmal hohes Tempo haben und die Dinge wirklich beschreiben. Aber nicht immer verständlich.

Lesefluss: ***

Wer liest schon Gedichtbände von vorne nach hinten, und die Gedichte sind so kurz, dass es kaum Schwierigkeiten bereitet. Oft haben die Gedichte ein schönes Tempo, einen schönen Klang. Manchmal haben sie auch Witz. Allerdings sind sie nicht immer zugänglich, das stört natürlich.

Spannung/Story: ???

Hier gibt es wirklich keine Handlung, höchstens Geschichtenfetzen. Spannend sind die Gedicht an sich auch nicht, höchstens die Gedanken, die sie anregen.

Relevanz: ***

Das Gedicht ist eine seltene Form für politische oder gesellschaftliche Themen, doch was gute Gedichte immer machen, ist unsere Wirklichkeit zu hinterfragen. Auch Popp macht das, und zwar unsere Wirklichkeit der Sprache. Allerdings sind es nur selten wichtige Worte, deswegen ist es auch nur mäßig relevant.

Buchende: ???

118 Gedichte haben 118 Enden. Obwohl hier die Enden immer gleich sind: Denn der Titel kommt hier erst am Ende, so bekommen

Popp, Steffen: 118. Kookbooks, 144 Seiten, 19,90 Euro

Autobiographische Spurensuche: „Sie kam aus Mariupol“ von Natascha Wodin

Wie bereits 2014 wieder ein sehr autobiographisches Buch, dass sich selbst nicht mehr Roman nennt. In gewisser Weise eine logische Fortsetzungen ihrer sonstigen autobiographischen Texte.

Thema: Natascha Wodin versucht an ihre Mutter zu erinnern, die in der heutigen Ukraine gelebt hat und in Nazi-Deutschland im Arbeitslager interniert war.

Buchanfang: ****

Er hat mich wirklich reingezogen, er hat mir Lust auf den Roman gemacht. Wie die Autorin versucht, im Internet die Spuren ihrer Mutter zu finden und überraschende Ergebnisse erhält. Aber auch nicht der beste Anfang aller Zeiten…

Sprachliche Raffinesse: ***

Es ist doch meist sehr sachlich. Es passt zum Roman und sie trifft den richtigen Ton, aber es doch gewöhnlich.

Lesefluss: ***

In diesem Fall ist der eng mit dem Thema verknüpft und das historische in der Form reizt mich nicht über die Maßen. Gerade in der ersten Hälfte bleibt es doch etwas trocken, und wird er dann Literatur.

Spannung/Story: ***

Es fällt sehr schwer bei einem solchen Text ein Urteil zu fällen, denn es ist das Leben, es ist transformierte Wahrheit. Dieser Text bracht keine dramaturgisch geschickte Handlung, er braucht keine Spannung. Es ist gut so, wie er ist.

Relevanz: *****

Hier scheint der Text ungeschlagen, denn er greift ein wichtiges, und dennoch untergegangenes Thema auf. Ohne das die Autorin angeklagt, ohne dass sie sich auf die Schulter klopft, was die Bedeutung nur unterstreicht. Das Buch schafft Raum für Menschen, denen niemand Raum zugestanden hat.

Buchende: ***

Es ist rund, wenn die die Autorin gegen Ende zu ihrer eigenen Geschichte kommt, zu den Erinnerungen, die sie noch an ihre Mutter. Wo dann auch das Schweigen erklärt wird. Doch es gräbt sich mir nicht ein.

Wodin, Natascha: Sie kam aus Mariupol. Rowohlt, 364 Seiten, 19,95 Euro

Ein vieldeutiger Titel: „Hagard“ von Lukas Bärfuss

Der Schweizer Autor begann eigentlich als Dramatiker, doch bereits sein erster Roman „100 Tage“ wurde für den Deutschen Buchpreis 2008 nominiert, wie auch sein vorheriger Roman „Koala“. Hagard kann übrigens im Französischen verschroben bedeuten, oder aber einen Greifvogel bezeichnen.

Thema: Ein sehr psychologischer Roman, der mehr einer Novelle gleicht. Ein Mann erzählt von einem Bekannten, der aus lauter Langeweile beginnt eine Frau zu verfolgen und dabei vollkommen aus seinem Leben fällt.

Buchanfang: ***

Da begegnet uns erstmal ein undurchsichtiger Erzähler, der diese Geschichte erzählen will. Ist nicht sehr ungewöhnlich, handwerklich gut gemacht, aber irgendwie auch Auftakt, des größten Problems des Romans.

Sprachliche Raffinesse: ****

Der Roman ist dicht und konzentriert. Die konzise Sprache trägt der Spannung bei. Irgendwie schafft Bärfuss es auch die Leser in den Kopf seines Protagonisten zu holen, sie irgendwie miteinander zu synchronisieren

Lesefluss: ***

Eigentlich liest sich der Roman durch seine Dichte gut weg, aber dennoch gibt es seltsame Störelemente, Auswucherungen, die fehl am Platze wirken. Doch das größte Problem ist der Erzähler, der sich manchmal regelrecht einmischt, aber eben nicht konsequt – so wird er zum Störfaktor.

Spannung/Story: *****

Obwohl ja nichts passiert, folgt der Leser dieser Geschichte voller Anspannung. Denn Bärfuss schafft es geschickt das Leben seines Protagonisten Stück für Stück abzutragen. Dieser Prozess ist so geschickt gezeigt, außerdem fiebert man doch mit, ob nicht doch gleich etwas passiert.

Relevanz: ****

Es ist ein Psychogramm, auch unserer Gesellschaft. Immer wieder macht der Text klar: Das hier unsere Welt und unsere Zeit. Ab hier beginnen dann die Gedanken zu rollen, wie ungebunden wir doch sind, alles nur Fassade, wie viele Neurosen die Welt hat und wie schnell wir in Obsessionen verfallen.

Buchende: ***

Das Ende ist konsequent, eigentlich auch ein schönes Bild. Es krankt aber an der Konstruktion des Erzählers. Aber hier möchte man nicht zu viel verraten, weil das auch ein bisschen zur Spannung gehört.

Bärfuss, Lukas: Hagard. Wallstein Verlag, 174 Seiten, 19,90 Euro

Erzähler auf Identitätssuche: „Kirio“ von Anne Weber

Eine Autorin zwischen Deutschland und Frankreich und dazwischen spielt auch dieser Roman, der so voller Freude steckt

Thema: Es soll die neue Heiligenlegende sein, von Kirio dem Freudenverbreiter, der am liebsten auf Händen läuft oder sich Radschlagend fortbewegt. Doch es geht auch um das Erzählen selbst, denn die Erzählstimme hinterfragt permanent ihre eigene Existenz und sucht lieber andere, die ihre Aufgabe übernimmt.

Buchanfang: *****

Durch diese spezielle Konstruktion beginnt dieser Roman für mich schon mit einem Lächeln, denn ich liebe Metafiktion. Aber auch das erste Auftreten des Titelhelden Kirio hat all meine Sympathien geweckt.

Sprachliche Raffinesse: ****

Dieser Roman hat mir so viel Spaß gemacht, dass ich überall Höchstnoten verteilen wöllte. Doch hier gibt es Abzug, weil die die vielen Erzählstimmen noch stärker hätten sein können, noch differenzierter.

Lesefluss: *****

So wie der hüpfende Kirio bin ich durch diesen Roman geflogen. Weil ich aber auch immer wieder überrascht war, weil ich immer neugierig blieb. Dieser Erzähler, der mich permanent anspricht, führt in selbstreflexiven Schleifen zum nächsten Erzähler.

Spannung/Story: *****

Jegliches große Drama bleibt aus, sodass Kirio eine Aneinanderreihung von positiver Anekdoten bleibt. Und man will nächste hören. Das Zusammenspiel dieser legendenhaften Erzählung und dieser gebrochenen Erzählposition ergänzt sich so wunderbar, dass eigentlich zwei Erzählungen parallel laufen.

Relevanz: ****

Darüber kann man sich nun streiten, ob das wirklich wichtig ist, oder ob die Literatur hier nicht nur in ihrem eigenen Saft schmort. Aber auch das tut meiner Meinung nach Not, es wird viel zu wenig über das eigene Tun nachgedacht. Außerdem merkte ein Freund an, dass Kirio vielleicht auch ein nötiger Gegenentwurf zur modernen Welt mit all ihrer Tristesse ist. Das reicht fast für Höchstzahl.

Buchende: ****

Kurz gesagt: Es war zu kurz. Vielleicht hätte man das Ende noch mehr vorbereiten können, aber das hätte wiederrum dem Konzept widersprochen. Doch es hat einen wunderbaren Beigeschmack, dass dieser zauberhafte Kirio jederzeit auftauchen könnte. Aber irgendwie war es dann doch schnell abgehandelt, deswegen ein kleiner Abzug.

Hier spreche ich mit der Autorin.

Weber, Anne: Kirio. S. Fischer, 224 Seiten, 20 Euro

Ein Erzählreigen: „Der Scheik von Aachen“ von Brigitte Kronauer

Brigitte Kronauer gilt als Handwerkerin, mit einem konsequenten, wenn auch etwas alten Stil. Aber sie hat eine Marke, die ihre Freunde hat.

Thema: Eine Frau kehrt um der Liebe Willen in ihrer Heimatstadt Aachen, nur um ihre Liebe bei einem Bergsteigerunfall zu verlieren. Jetzt versucht sie im Alltag und mit vielen Gesprächen über den Verlust hinweg zu kommen.

Buchanfang: ***

Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll, es war nicht schlecht, aber auch nicht bemerkenswert.

Sprachliche Raffinesse: ****

Kronauer zeichnet ihre Situationen schon sehr genau, wie sie ihre Nebenfiguren einflicht, wie sie diese, der Zeit enthobenen Dialogsituationen herstellt – da zeigt sich eben die Handwerkerin.

Lesefluss: ***

Für Brigitte Kronauer und auch für diesen Text muss man Zeit und Ruhe mitbringen, am besten nimmt man das Buch in den Urlaub, in dem einen nichts stresst. Mir hat es Mühe bereitet, denn mein Puls war einfach zu schnell.

Spannung/Story: ***

Die Geschichten sind geschickt ineinander verwoben, doch eigentlich passiert nichts, aber das passiert gut.

Relevanz: **

Natürlich geht es um große Themen, wie Liebe und Tod, sowie die Macht des Erzählens. Aber das Thema ist nicht neu und bestimmt momentan nicht das drängendste. Aber Literatur muss nicht relevant sein, um gut zu sein.

Buchende: *****

Das hat mich total begeistert, auch wenn es fast wie nachgeschoben erscheint, wie ein Ende nach dem Ende. Doch nachdem die Erzählerstimme immer wieder die vierte Wand durchbricht, nimmt sich hier der Roman Zeit über die Literatur selbst nachzudenken.

Kronsteiner, Brigitte: Der Scheik von Aachen, Klett-Cotta, 399 Seiten, 22,95 Euro

Ein kurzes Spiel mit den Karten

Insgesamt mochte ich die diesjährige Auswahl mehr, als die letztjährige, deswegen sind auch alle Parameter ziemlich stark. Mit Abstrichen habe ich jedes Buch gern gelesen.

Spannend fand ich die Verknüpfung, weil jeder Titel das Erzählen selbst in Frage gestellt hat: Popp vielleicht am undeutlichsten, aber es lässt sich als Anleitung für Metaphern lesen. Am deutlichsten bei „Kirio“, wo der Erzähler ständig fragt, welche Macht er hat. Bei „Hagard“ wird es nicht so deutlich erwähnt, aber auch hier spiegelt sich der Autor, der seine Figuren verfolgt (und auch nie weiß, wie sie wirklich sind). Wodin hat keinen Erzähler, stattdessen zeigt sich die Autorin selbst beim Erzählen, und hinterfragt ihren Zugang. Im „Scheik von Aachen“ wird ständig die vierte Wand durchbrochen, auch um den Leser auf die Macht des Erzählens hinzuweisen, was sich zum Schluss in die Ermächtigung der Literatur über das Leben zuspitzt.

Obwohl so nah beieinander scheinen die Favoriten klar: „118“ wird als schwarzer Peter herausfallen, auch weil die Gedicht doch nicht genug Durchschlagskraft haben. „Der Scheik von Aachen“ ist zwar hohe Literatur, gefällt aber nicht jedem und ist vielleicht auch zu sehr nur, Literatur. Wodins „Sie kam aus Mariupol“ ist zwar relevant, aber wiederrum zu wenig Literatur. Das Rennen wird Also zwischen „Hagard“ und „Kirio“ stattfinden. Obwohl „Kirio“ hier die stärkeren Werte hat, wird „Hagard“ mit seiner abgründigeren Darstellung der Welt, vielleicht doch mehr glänzen.

Mehr über die Bücher hört ihr übrigens auch hier.

Die Preisverleihung findet am 23. März um 16 Uhr in Leipzig statt.

Thilo
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Thilo

Hat sich von einer anfänglichen Faszination für Bücher, über erste Leseerfolge zum Bibliomanen entwickelt. Eigentlich hat der Kulturjournalist nur aus Langeweile gelesen, hier mal ein Buch im Zug, mal eines im Urlaub, mal ein bisschen vorm Einschlafen. Nach unausgegorenen Berufswünschen wie Koch, Hornist oder Schauspieler, verschlägt es ihn zum Studium der Theaterwissenschaft nach Leipzig und in die Redaktionsräume des Ausbildungsradios mephisto 97.6. Ganz beiläufig lässt er hier fallen, dass er eigentlich ganz gerne mal ein Buch lese. Schon einen Monat später leitet er – hopplahopp – die Literaturredaktion und Lesen wird zum Exzess (in den Tagen vor Buchmessen liest er gerne Nächte und Tage durch). Inzwischen spricht er hin und wieder bei MDR Kultur und dem Deutschlandfunk über Literatur, Theater, Musik, neue Medien und alles was die Leute (oder: ihn) interessiert. Sein Ziel: Der nächste Marcel Reich-Ranicki (und ein bisschen Gerhard Stadelmaier) werden – nur besser aussehend … und vielleicht etwas umgänglicher. So lange vergnügt er sich weiter auf schraeglesen.de

Ein Kommentar:

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