Gefangen im Zwischenzustand

Sie sind überall, ihre Zahl wird immer größer und kaum einer weiß, wie wir mit ihnen umgehen sollen und können. Es geht um ‚die Alten‘. Die Menschen, für die den Tod erwarten, weil sie schon so viel gelebt werden. Ständig werden sie aus dem Sichtfeld gedrängt, weil sie uns irgendwie beim Leben stören könnten. Mit ihrem Stück „Geister sind auch nur Menschen“ wollte Katja Brunner sie zeigen.

Ich komme an – schon mit der Frage im Kopf, ob ein junger Mensch über die Probleme des Alters schreiben kann. Doch ich ahne natürlich, dass es darum nicht geht, sondern um den Umgang mit den alten Menschen und das geht vielleicht wirklich eher die jungen etwas an. Ich bekomme das Programmheft in die Hand und auf der letzten Seite beantwortet die Autorin auf zwei Fragen (warum nur zwei? Ganz oder gar nicht!) und erzählt, dass sie extra in Altenheimen gearbeitet hat. Es schöpft also schon aus der Realität.

Ich verrate – dass man hier keine Handlung erwarten darf. Der Text könnte so auch in einer Literaturzeitschrift stehen mit seinen großen Textblöcken. Es gibt zwar wiederkehrende Figuren, wie die Heisinger, die Frau Simplon und den Raucher, es gibt zwischen den Monologen auf einige Dialoge. Doch es ist keine Handlung, sondern in einander geschobene Szenen aus dem Alltag eines Altenheims, ein Porträt des Lebens gegen Ende des Lebens, der – so fühlt es sich an – gerade noch Lebenden.

Ich sehe – weiß. Und vielleicht noch etwas grau. Das sind die bestimmenden Farben des Abends und jede andere wirkt wie ein Ausbruch. Alles ist in steriles weißes Licht getaucht. Die kreisrunde Bühne von Andreas Auerbach ist zu Beginn von einem milchigen Vorhang umschlossen. Davor versammeln sich die Schauspieler, die über ihren weißen, engen Körperanzug bunte Kleidchen tragen. Ihre weiß geschminkten Gesichter werden von einer schwarzen Perücke umrahmt. Sie stehen da und sprechen im Chor, erzählen vom Altwerden. Ihre Augen sind weit geöffnet, verwirrende Blicke. Dann öffnet sich der Vorhang: Eine Art Gemeinschaftsraum ist zu sehen, alles in Weiß. Die Schauspieler versammeln sich um die Torte. Nach und nach gehen sie von der Bühne und tauchen als greisige Version von sich wieder auf. Sie haben die schwarzen, jugendlichen Bobfrisuren, gegen lange graue Haare getauscht. Statt der Kleidchen, tragen sie jetzt ein Körperkostüm, das vollkommen aus der Form geraten ist, mit den hängenden Brüsten und langen Schwänzen. Alles wirkt künstlich, die Darsteller haben etwas von Helden aus Fantasy-Filmen mit ihren extrovertierten Frisuren, nur dass sie jetzt keinen Kampf mehr zu fechten haben. Der Körper hängt an ihnen, als würde er nicht zu ihnen gehören. Sie stolpern und irren jetzt in diesem kleinen Raum herum, der sich beginnt zu drehen. So umkreisen sich die Heisinger (Florian Steffens) mit ihren vollgekoteten Fingern und die angeekelten Pflegekräfte, so kreist der alte Mann mit seinen Gedanken nur um die körperliche Liebe, so dreht die Frau Simplon (Sophie Hottinger) ihre Runden durch das Heim, immer fragend, wo sie eigentlich sei. Es ist ein geschlossenes System, dass sich nur aus Wiederholung von Abläufen und Gedanken dreht.

Ich höre – ruhige Klänge die durch den Raum wabern, darüber wird viel Text gesprochen. Denn auch der Dramentext ist relativ episch und erzählt, von Erlebnissen, Erinnerungen und Erfahrungen. Da erzählt ein Mann (Andreas Dyszewski) wie er sich darauf gefreut hat, endlich mal seinen Lastern zu frönen, ohne Angst vor den Auswirkungen und dann darf er weder rauchen noch trinken. Da läuft eine Frau (Julia Preuß) über die Bühne, böse lachend und lässt sich über den Sittenverfall und die übertriebene Gleichberechtigung aus: „Ich hatte keine Freizeit … ich habe mein Leben an meine Kinder gekettet.“ Ein alter Mann (Katharina Schmidt) erzählt von seiner Frau, die „an der Liebe erstickt“ ist, die keine Kinder kriegen konnte und deswegen (vielleicht auch darum) an Gebärmutterkrebs erkrankt ist. Aus den Lautsprechern ertönt eine Computerstimme, die die nicht mehr vorhandenen Möglichkeiten erzählt (Sie können wählen zwischen einem Pfefferminztee und einem, warten Sie, einem Pfefferminztee). Frau Simplon (Sophie Hottinger) drückt immer wieder den Notruf, lässt den Pfleger (Timo Fakhravar) antanzen bis er ihr die Diagnose Demenz vorbeibringt. Und auch der klagt. Er/sie (das Geschlecht bleibt bewusst unklar) erzählt von den Mühen, den Übergriffen, von den Bösartigkeiten und der Empathielosigkeit. Plötzlich steht das Frau Simplon und sie streiten darüber, dass sie nicht gehen kann, dass es einfach nicht mehr geht. Nur in der Raucherpause sind sie irgendwie verbunden. Dann sitzen sie beim Fernsehabend, schauen Krieg der Sterne (denn auch sie sind Krieger eines lange vergessenen Krieges), immer wieder schauen sie die Szene, in der Yoda über den Tod spricht, sie reden mit: Es sind ihre Sorgen. Sie wiederholen solange bis die Pflegefachkraft den Fernseher wegnimmt. Dann hören wir das wilde Lachen eines Mannes, das gehauchte „grausam“ einer Bewohnerin, das Lied über Solidarität. Diese Menschen wollen noch leben und feiern auch mal. Doch am Ende wissen sie nicht wohin, was sie den Menschen noch bedeuten. Dann kommt ein Showmaster und erzählt vom Tod, dem Unvorstellbaren.

Ich beobachte – eine wohldurchdachte Inszenierung, die am Text gearbeitet hat. Ich kann mir vorstellen, dass der Bühnenregisseure schon fordert, weil er so episch angelegt ist, dass er auch gut in einer Literaturzeitschrift hätte erscheinen können. Aber Claudia Bauer (und vermutlich ihre Dramaturgin Katja Herlemann) haben sich dem Text wirklich angenommen, sie haben gekürzt, umgestellt und natürlich auf der Bühne starke Situationen für den Text hergestellt. Das gute Timing wurde bereits erwähnt und ist eine Stärke dieser Inszenierung, die sich eben auch nicht vor Ruhe scheut. Da entstehen unangenehme Momente und die Schauspieler stehen nur da, während sich vielleicht die Bühne dreht, und all das unterstreicht die Situation. Dadurch entsteht auch eine Vielschichtigkeit, die vom Text ausgeht und über den Text hinaus. Die Entfremdung vom eigenen Körper wird oft angesprochen, und setzt sich in den Kostümen und der Bewegung fort. An dieser Stelle auch ein großes Lob an die Darsteller, die sich gekonnt zusammengefügt haben, denn das war ein Abend des Ensemblespiels, in dem die einzelnen Figuren, die wunderbar herausgearbeitet waren, in dem Puls der Inszenierung aufgehen.

Ich fühle – mich hin und hergerissen zwischen Lachen und Schrecken. Die Inszenierung schwört immer wieder absurde Situationen herauf, durch Übertreibungen, durch das richtige Timing des Wortwitzes, durch die Durchbrechung der Erwartungshaltung. Doch es ist kein Witz auf Kosten der Dargestellten, denn unter all dem schwebt so etwas Verzweifeltes. Sie wirken so verlassen, ghettoisiert, abgefertigt. Da wogt so eine seltsame Schuld auf, dass viele sich die Mühe sparen, sich mit diesen Menschen auseinander zu setzen, die manchmal so böse sind, weil sie aus einer alten Welt stammen, weil sie anstrengend sind, wenn sie sich selbst nicht mehr im Griff haben. Aber ich verstehe auch die Wut, weil sie den Teppich verloren haben. Das Leben wird ihnen nicht mehr zugestanden, als ob man sie sanft zum Tod schieben möchte, aber irgendwie durch nicht in den Tod lässt.

Ich sage – voller Begeisterung, dass das ein gelungener Theaterabend war. Das konnte jeder bereits zwischen den Zeilen lesen. Nun gut, für mich hatte das letzte Drittel einige Längen, aber irgendwie passt das auch zum Warten auf den Tod (im positiven Sinne). Bei dem ich mich allerdings gefragt habe, ob es richtig ist, alte Menschen so zu zeigen, als würde sie auf den Tod warten, doch das war es gar nicht. Es waren die Menschen, die im Zwischenraum stecken, noch nicht Tod sind, aber offensichtlich auch nicht mehr im Leben erwünscht sind. Alles was damit verbunden ist, hat die Inszenierung gezeigt, wie die Gesellschaft überaltert, wie das Alter den Menschen wieder zum Kind macht (der Kreislauf des Lebens), dieses Aussondierte. Dabei war alles ausgewogen: Es war drastisch und beklemmend genug um zu schlucken, aber ohne geplanten Skandal, es war schrecklich zu sehen, aber mit so viel Humor genommen, dass der moralische Zeigefinger ausblieb. So hat der Abend mich wirklich mit dem Thema konfrontiert, ohne dass ich schon wieder so davon genervt bin, dass ich diese Gedanken wegschiebe. Also denke ich, hat das Schauspiel Leipzig mit dieser Inszenierung all seine Ziele erreicht.

“Geister sind auch nur Menschen” von Katja Brunner, inszeniert am Schauspiel Leipzig von Claudia Bauer.

Thilo
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Thilo

Hat sich von einer anfänglichen Faszination für Bücher, über erste Leseerfolge zum Bibliomanen entwickelt. Eigentlich hat der Kulturjournalist nur aus Langeweile gelesen, hier mal ein Buch im Zug, mal eines im Urlaub, mal ein bisschen vorm Einschlafen. Nach unausgegorenen Berufswünschen wie Koch, Hornist oder Schauspieler, verschlägt es ihn zum Studium der Theaterwissenschaft nach Leipzig und in die Redaktionsräume des Ausbildungsradios mephisto 97.6. Ganz beiläufig lässt er hier fallen, dass er eigentlich ganz gerne mal ein Buch lese. Schon einen Monat später leitet er – hopplahopp – die Literaturredaktion und Lesen wird zum Exzess (in den Tagen vor Buchmessen liest er gerne Nächte und Tage durch). Inzwischen spricht er hin und wieder bei MDR Kultur und dem Deutschlandfunk über Literatur, Theater, Musik, neue Medien und alles was die Leute (oder: ihn) interessiert. Sein Ziel: Der nächste Marcel Reich-Ranicki (und ein bisschen Gerhard Stadelmaier) werden – nur besser aussehend … und vielleicht etwas umgänglicher. So lange vergnügt er sich weiter auf schraeglesen.de

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