Ein Buch aus Nudeln

Die Literatur ist ein Spiel und der französisch-amerikanische Autor Raymond Federman spielt nur mit dem höchsten Einsatz: “Alles oder nichts”. Unter diesem Titel verwandelt er sich selbst in Literatur, spielt er mit den Genregrenzen und den einzelnen Buchstaben. Ein Buch, bei dem jede Seite ein eigenes typografisches Kunstwerk ist. 

Die Vorbereitung der Nudelzeit

Es ist ein wahnsinniger Plan, die sich der Sprecher dieses Romans vornimmt: Er will sich für ein Jahr in ein Zimmer in New York einschließen, nur von Nudeln ernähren (meist trocken, nur hin und wieder mit etwas Tomatensoße) und einen Roman schreiben. Der namenlose Erzähler möchte eine Geschichte von Einwanderung erzählen, von einem Protagonisten, dessen Namen sich ständig ändert, mal Jacques, Solomon oder Boris. Mitte der 1940er Jahre kommt er mit dem Schiff nach Amerika aus Frankreich, um den Trümmereuropa zu entkommen und sich im ‘Land der unbegrenzten Möglichkeiten’ ein unbegrenztes Leben aufzubauen.

Doch der Roman beginnt nie – zumindest nicht in diesem Buch. Der Erzähler bastelt vor den Augen der Leser an der Handlung und entwirft eine Szenenabfolge – eine Liebe auf dem Überfahrtsschiff, eine Fahrt mit U-Bahn (die ein Fenster in dieses New York), ein Essen mit den Verwandten. Bevor die Geschichte jedoch konkret wird, unterbricht sich der Erzähler. Er muss seinen Aufenthalt planen, seine Finanzen durchrechnen, wobei er sich immer wieder die Frage stellt, ob das die ganze Mühe überhaupt wert ist. So mäandert dieses Buch vor sich hin, unfähig zum Roman zu werden und deswegen umso spannender.

Ein real-fiktiver Diskurs

“A real fictious discourse” ist der Untertitel und genau so wenig lässt sich dieses Buch einordnen, das eben immer wieder zwischen real und fiktiv schwankt, sodass die Grenzen kaum noch zu erkennen sind. Dabei stellt es Fragen an die Literatur, die wir wohl alle kennen: Ist Literatur nicht immer autobiographisch? Und welchen Wert hat das Erzählen gegenüber dem Leben – zugespitzt: Wozu brauchen wir Literatur?

Diese Fragen begegnen dem Leser in diesem Buch allerdings auf ganz faszinierende und verschobene Weise. Schon bevor es richtig losgeht, wird in einer Art Vorwort erklärt, dass hier verschiedene Menschen existieren, die die Geschichte beeinflussen: der Aufzeichner, der Erfinder, der Protagonist (gegebenenfalls noch der Übersetzer, der Verleger usw.). Bereits verschwimmt uns schon alles vor dem geistigen Auge.

Während der Erzähler dann beginnt seine Handlung seines ungeschriebenen Romans zu basteln, unterbricht er sich permanent selbst mit Überlegungen zum Essen, zu Vergnügungen, zur Unterkunft. Sein Plan wird letztlich permanent von finanziellen Sorgen überschattet. Diese Sorgen setzen sich dann auch in seinem Roman fort, dessen Handlung ihn auch immer wieder zu Gedanken über Arbeitsbedingungen und Einwanderung anregen. Teilweise sind es abstruse Gedankengänge, aber a anderer Stelle auch interessante Einblicke geben.

Gleichzeitig handelt es sich bei diesem Text um Metafiktion. Das ist ganz offensichtlich, denn immerhin geht es um einen Mann, der davon erzählt, wie er einen Roman schreiben will und welche Probleme ihm dabei begegnen. Das wird dann noch einmal durch verschiedene Spiegel geschickt. Denn er überlegt auch seine Figur, die mehr und mehr Eigenleben entwickelt (an einer Stelle bedauert der Autor, dass sich ein bestimmter Teil der Geschichte nach der Zeit abspielt, die sein Roman abdecken soll), sich ebenfalls in ein Zimmer begibt, um seine Erlebnisse niederzuschreiben. Faszinierender wird das ganze Konstrukt, als der Erzähler berichtet, wie er zu seinem Geld gekommen ist. Diese Anekdote soll auch Niederschlag in dem Roman finden und so scheint der Erzähler seine eigene Erinnerung neu zu erfinden. Weil das Erinnern ein wichtiger Teil dieses Romans ist, wollen wir einen kurzen Blick auf den Autoren selbst werfen.

Ein Spiegel für Raymond Federman

Denn während sich der Erzähler immer wieder Gedanken darum macht, ob sich er und sein Protagonist zu sehr ähneln, weil sie beide das gleiche Geburtsjahr haben, wurde auch Federman 1928 geboren. Ich denke, das sagt sehr viel über den autobiographischen Anteil aus. Ebenfalls gemeinsam ist ihnen, dass sie aus Frankreich stammen und nach Amerika ausgewandert sind. Deswegen wird auch immer wieder auf die Sprache hingewiesen. Federman war es sehr wichtig, dass er bilingual war, sozusagen französisch dachte und amerikanisch schrieb. Eben genauso wie der Protagonist französisch denkt und der Erzähler überlegt, wie er die französischen Gedanken im Amerikanischen verdeutlichen kann.

Noch interessanter ist das, was unter der Oberfläche brodelt: nämlich die Erfahrungen des Holocaust. Federman hat sich oft geweigert, seine Erfahrungen als Überlebender konkret zu verarbeiten, aber dennoch schweben sie ständig in diesem Roman. Immer wieder heißt es, dass die Lager nicht erwähnt werden müssen. Ohne es zu sagen, wird dieses Buch dadurch zu einem Buch der Erinnerung, die selten so geradlinig verlaufen, wie Textzeilen im Blocksatz.

Die Spielweise der Seiten

Wer dieses Buch aufschlägt, wird selbst von Federmans Einfallsreichtum erschlagen. Es gibt ja zahlreiche Bücher, die mit typografischen Einfällen aufwarten, doch bei Federman gleicht keine Doppelseite der anderen. Dennoch lassen sich verschiedene sich wiederholende Mechanismen erkennen, die sich natürlich auch überschneiden.

Die Struktur des Textes

Jeder Text besitzt eine bestimmte Struktur und einen bestimmten Stil, bei Federman wird das typografisch noch einmal unterstützt. Ein simples Beispiel dafür wäre, dass bestimmte Exkurse eingerückt und im Block eine eigene optische Einheit ergeben, oder sich ein Themen- oder Perspektivwechsel durch eine andere Schriftgröße ergeben (dazu gleich mehr).

Außerdem zeichnet sich Federmans Text durch Wiederholungen und Kumulationen aus, immer wieder werden einzelne Worte oder Phrasen wiederholt, oder mehrere Synonyme aneinandergereiht („ist besser │ ist einfacher │ ist sicherer“). Natürlich nicht einfach im Fließtext – vor allem weil es in diesem Buch kaum eine Seite mit Blocksatz gibt – stattdessen werden wiederholte Wörter oder Wörter der gleichen Wortgruppe untereinander. So wirkt es, als würden die Wörter in einem Satz ausgetauscht werden, also der Satz variiert wird. Oder die Wiederholung von Wörtern, Namen und Phrasen wird umso mehr betont, wie in einem Musikstück.

Tempo und Dynamik

Überhaupt ist dieser Text äußerst musikalisch, was allerdings erst offenbar wird, wenn der Text laut gelesen wird. Denn dass es sich hier um eine gesprochene Sprache handelt, wie es die Sprache der Erinnerung ja in erster Linie immer ist, zeigt sich schon an den beinahe durchweg fehlenden Satzzeichen.

Beim lauten Lesen – und sei es nur von wenigen Seiten – wird klar, wie sehr der Text rhythmisiert wird. Wenn ähnliche Phrasen direkt untereinander stehen, betone ich sie automatisch gleich. Wenn die einzelnen Worte sich wie bei Mallarmé über die Seite verteilen, wird das Sprech- und Lesetempo automatisch langsamer, ebenso wie es schneller wird, wenn sich der Text in einem Block drängt.

Ein anderes Mittel um den Text zu musikalisieren ist die Schriftgröße, die sich (wie bereits erwähnt) oft plötzlich ändert. Im ersten Moment dachte ich, dass Federman auf diese Art und Weise vielleicht seine Erzählebenen organisiert, die jedoch derart miteinander verschlungen und verwrungen sind, dass sie sich nicht so einfach optisch trennen lassen. Es ist also vielmehr ein Hinweis darauf, wie dieser Text klingen soll. Die Schriftgröße kann auf der Seite zu einem Tempowechsel beim Lesen führen, vor allem aber ist es eine Änderung der Lautstärke. So gab es verschiedene Momente, in denen ich selbst beim stillen Lesen das Gefühl hatte, der Erzähler wie bei einem ergänzenden Einschub seine Stimme senken, um einen Exkurs zum Thema zu machen (in dem er sich dann auch wieder verloren hat).

Wortbilder

Die Typografie bleibt dabei immer noch ein visueller Effekt und wie viele andere Autoren, die mit Typografie experimentieren und spielen, ähnelt Federmans Prosa der konkreten und visuellen Poesie. Wenn im Text vom Auf- und Absteigen die Rede ist, dann tut es auf der Text. In einem Exkurs über das Weckerklingeln durchschneidet eine Art Textbordüre aus dem Wort Wecker den Text in Tag und Nacht und unterbricht den Textfluss, wie der Wecken den Traum.

Die Irritation beim Lesen

Ehrlich gesagt konnte ich mir nicht jede typografische Eigenheit erklären. Die Frage, warum hat er seinen Text so gesetzt, blieb für mich unbeantwortet. Wahrscheinlich, weil ich zu sehr nach klaren Antworten suche. So gibt es beispielsweise eine Seite, auf der der rechte Textrand nicht gerade ist, sondern in Wellen läuft. Schätzungsweise versucht Federman lediglich den üblichen Text- und Lesefluss aufzubrechen, den Leser, der den Blocksatz gewohnt ist, zu irritieren. Denn es ist genau das Gefühl, das auch den Protagonisten dieses Romans heimsucht. So gibt es Seiten, bei denen die Textzeilen von unten nach oben gelesen werden müssen, oder der Text gar rückwärts geschrieben wurde.

Fazit: Eine Wundertüte

Vermutlich habe ich jetzt die besten oder interessantesten Beispiele unterschlagen, denn jede Seite in diesem Buch ist einzigartig und in jede Seite ließe sich etwas anderes hineinlesen. Federman schafft es also sehr geschickt mit seiner Typografie dem Text eine neue Ebene hinzuzufügen. Das macht das Lesen zum einen sehr viel spannender und es ermöglicht ganz andere Ansätze diese Geschichte zu verstehen.

Gerade zu Beginn fällt das nicht immer leicht. Ich habe eine Weile gebraucht, um den Ansatz dieses Romans zu verstehen, um dann im nächsten Schritt die verschlungen Ebenen zu entwirren beziehungsweise ihre Knoten zu erkennen. Doch nachdem das geschafft ist, liegt das eine große Fülle an komplexen und wichtigen Gedanken, die hier auf – vielleicht nach anfänglichen Anstrengungen –intuitive Weise Eingang ins eigene Denken finden. Dieses Buch ist ein Erlebnis und jede Seite wunderbare Überraschung.

Raymond Federman: Alles oder nicht. Aus dem Amerikanischen von Peter Torberg, Die andere Bibliothek, 293 Seiten

 



Themenbeiträge:
Einführung // Experimentelle Typografie // Geschichte der Computer(spiel)Typografie // Videospieltypografie

Besprechungen:
“Alles oder Nichts” (Papier) // “Typoman” (Digitales) // “Type:Rider” (Digitales)

 

Thilo
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Thilo

Hat sich von einer anfänglichen Faszination für Bücher, über erste Leseerfolge zum Bibliomanen entwickelt. Eigentlich hat der Kulturjournalist nur aus Langeweile gelesen, hier mal ein Buch im Zug, mal eines im Urlaub, mal ein bisschen vorm Einschlafen. Nach unausgegorenen Berufswünschen wie Koch, Hornist oder Schauspieler, verschlägt es ihn zum Studium der Theaterwissenschaft nach Leipzig und in die Redaktionsräume des Ausbildungsradios mephisto 97.6. Ganz beiläufig lässt er hier fallen, dass er eigentlich ganz gerne mal ein Buch lese. Schon einen Monat später leitet er – hopplahopp – die Literaturredaktion und Lesen wird zum Exzess (in den Tagen vor Buchmessen liest er gerne Nächte und Tage durch). Inzwischen spricht er hin und wieder bei MDR Kultur und dem Deutschlandfunk über Literatur, Theater, Musik, neue Medien und alles was die Leute (oder: ihn) interessiert. Sein Ziel: Der nächste Marcel Reich-Ranicki (und ein bisschen Gerhard Stadelmaier) werden – nur besser aussehend … und vielleicht etwas umgänglicher. So lange vergnügt er sich weiter auf schraeglesen.de

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