Die Turnhalle am Ende der Welt

Nicht nur wir haben uns in den vergangenen Wochen mit dem Weltuntergang beschäftigt. Auch das Schauspiel Leipzig hatte die Apokalypse vor Augen und hat daran gearbeitet eine ganz bestimmte Vision auf die Bühne zu bringen: Heinz Helle hat hier seinen Roman „eigentlich müssten wir tanzen“ für die Bühne bearbeitet.

Foto: Rolf Arnold

Ich komme an – wie immer bei solchen Produktionen… mit dem Buch „eigentlich müssten wir tanzen“ in der Tasche, das die Grundlage für diesen Abend bilden soll. Eigentlich ist das mehr für das Gefühl und nicht weil ich es vorher unbedingt noch lesen wollte. Denn ich habe es damals (das heißt, als es 2015 auf der Longlist des deutschen Buchpreises gelandet ist) bereits gelesen – und ich war ziemlich begeistert. Deswegen war ich ab dem Moment bereits neugierig, als ich erfahren hatte, dass das Schauspiel diesen Text auf die Bühne bringen will. Wird das ein spannender Theaterabend oder doch wieder nur Textdeklamation? Die üblichen Fragen vor einer Vorstellung.

Ich verrate – nicht nur, dass es hier um das Ende der Welt geht, sondern auch wie sie Heinz Helle in „eigentlich müssten wir tanzen“ erzählt: Wie so oft in der Literatur jenseits der Genre ist der Moment des Weltuntergangs relativ unbedeutend. Warum, wann und wie sind hier irrelevante Fragen. Es geht um eine Gruppe Männer: fünf Freunde, die sich noch aus der Schule kennen. Zusammen wollten sie mal wieder richtig Männer sein. Alleine auf einer Berghütte. Doch als sie den Rückweg antreten wollen, müssen sie erkennen, dass sie die letzten Überlebenden einer großen Katastrophe sind, aus der es offensichtlich keinen Ausweg mehr gibt. Zusammen versuchen sich die fünf wieder in die Zivilisation zu retten. Doch sie verschwinden, wie am Ende eines Abzählreimes, der womöglich sogar die gesamte Menschheit umfasste.

Foto: Rolf Arnold
Foto: Rolf Arnold

Ich sehe – eine realistisch anmutende Turnhalle, ein Ort des Drills aus den 80er oder 90er Jahren mit Sprossenwand, Basketballkorb und Bänken. Hier scheint aber kein Sportunterricht mehr stattzufinden – der Boden ist vollgestellt mit Notfallliegen, mit denen die Ausstatterinnen Mariam Haas und Lydia Huller geschickt an Bilder von provisorischen Erstaufnahmelagern erinnern lassen und damit zeigen, dass wir bisher vielleicht einfach nur Glück hatten. Die Turnhalle bildet dabei natürlich auch die Grundlage der Beziehung dieser Schicksalsgemeinschaft, die sich aus Schultagen kennt und die die Dynamiken aus diesen Zeiten nicht immer überwunden zu haben scheint. Über dem Spielfeld befindet verglaste Kabine – ursprünglich womöglich für Kommentatoren gedacht – doch nachdem hier keine sportlichen Spiele mehr ausgetragen werden, mutiert dieser Ort zum Himmel, aus dem heraus die “Ausgezählten” herabsprechen. In der Rückwand öffnen gelegentlich Doppeltüren zu eingesetzten kleinen Bühnenbildern, die Abwechslung in den Bildern herstellen. Die Schauspieler tragen Kostüme, die zeigen sollen, wo die fünf im richtigen Leben hingehören, wer Lagerist und wer Banker ist. Die Kleidung selbst verliert jedoch bald an Bedeutung. Nach dem Tod kehren sie in langen Kleidern wieder, vielleicht um zu zeigen, dass man im Himmel seine Männlichkeit nicht mehr beweisen muss – aber eine klare Antwort gibt es darauf für mich nicht.

Ich höre – vor allem den Text, den ich bereits aus dem Roman „eigentlich müssten wir tanzen“ kenne. Wie es das ‚wir‘ im Roman vermuten lässt sprechen die fünf Schauspieler im Chor, aber selbstverständlich nicht permanent. Die Figuren, die im Roman „eigentlich müssten wir tanzen“ nur angedeutet werden, sind nun sichtbar. Dennoch spricht keiner von sich selbst – erst zum Schluss, als keiner mehr lebt zu dem man sprechen könnte, entsteht ein ‚ich‘. Davor reden die fünf Überlebenden übereinander. Sie beschreiben, wie sie sich durch eine verbrannte Welt kämpfen, Zusammenhalt stärken wollen, ihn dann wieder verlieren, so wie ihre Zivilisation und manchmal auch ihre Menschlichkeit. Je mehr von ihnen auf die andere Seite des Lebens wechseln, desto mehr verschränken sich die Textebenen, fallen die Erzählungen von vergangenen Zeiten mit Beschreibung der aktuellen Herausforderungen zusammen. Die wenigen Einsätze von musikalischen Mitteln unterbrechen die tristen Beschreibungen, bilden Ausbrüche, die auch immer wieder an den Titel des Abends erinnern: „eigentlich müssten wir tanzen“.

Ich rieche – leider nichts. Aber ich könnte, wenn meine Nase nicht verschnupft und völlig unsensibel wäre. Währen auf der diesseitigen Bühne der Hunger und Erinnerungen an Essen Besitz von den Überlebenden ergreift, braten sich die beiden Toten Rühreier mit Zwiebeln und wecken auch bei einigen Zuschauern zumindest so etwas wie Appetit.

Ich beobachte – eine Inszenierung, die versucht mit dem deskriptiven Text umzugehen. Das erscheint mir an einigen Stellen sehr schwierig zu sein und sorgt für ein klassisches Dilemma: Dass Regisseure nicht alles zeigen können oder billig bebildern möchten, aber andere Aktionen schnell als simpler Inszenierungstrick enttarnt werden. Doch im Großen und Ganzen hat Daniel Foerster für diesen Abend eine recht gute Strategie entwickelt, die natürlich nicht frei von Statik ist. Hier geht es viel um Blicke. Wer spricht und sieht wen dabei an? Dadurch entstehen Spannungen zwischen den Figuren, die eben auch präsent sind, während sie eigentlich schon tot sind. Natürlich ist die Erkenntnis und die Grundidee simpel, die Toten sprechen zu lassen (immerhin hat das schon Sophokles in den „Persern“ gemacht), doch die Gleichzeitigkeit die dadurch entsteht – auch wenn sie es mit der Gleichzeitigkeit eines Musiktheaters nicht aufnehmen kann – schafft doch neue Gedankenräume. Auf diese Weise macht Foerster den Text, der nicht immer leicht ist, auch wenn er recht nüchtern geschrieben ist, gut verständlich. Dazwischen schafft er auch immer wieder Bilder, die eine theatrale Stärke besitzen: Der Sterbende steht in der Mitte, alle sehen ihn an und beschreiben seinen Tod. Einer der fünf zieht sich aus, hängt sich an die Akrobatikringe, das hinter ihm gleißende weiße Licht macht ihn zur Silhouette. Die fünf Darsteller Thomas Braungardt, Timo Fakhravar, Heiner Kock, Felix Axel Preißler und Brian Völkner agieren in diesem Setting erstaunlich selten als Gruppe, dadurch entstehen hin und wieder auch schwache Momente, in denen die einzelnen Schauspieler zu viel oder zu wenig agieren.

Ich fühle – genau die unangenehme, aber faszinierende Beklommenheit, die mich bereits beim Lesen von „eigentlich müssten wir tanzen“ ereilt hat. Es ist eben genau dieser nüchterne Ton, der dem Sterben (ich möchte eigentlich fast schon Verenden sagen) und dem Verlust der Menschlichkeit so große Schlagkraft verleiht. Genau dieses Gefühl unterstützt die Inszenierung an vielen Stellen: Der Text klingt zwar Mitleid an, als das erste Opfer wegen einem gebrochenem Fuß zurückbleiben muss, doch wirklich helfen will ihm auf der Bühne niemand. Erst am Ende entsteht wirklich eine Nähe, werden die früheren Beziehungsmuster aufgegeben. Vermutlich ist es die Angst vor der Einsamkeit, der totalen Einsamkeit, die die Trauer um den Tod des Freundes wachsen lässt.

Ich sage – dass „eigentlich müssten wir tanzten“ mehr vom Text getragen wird, als von einer besonderen Inszenierungsidee. Es ist aber eben ein starker Text. Helle erzählt geschickt vom Ende der Welt, wie sich die Erinnerungen halten, obwohl sie beinahe vollkommen bedeutungslos geworden sind. Wie sich die Menschen an alte Verhaltensweisen klammern und dennoch (oder gerade deswegen) mehr und mehr ihre Menschlichkeit verlieren. Und der Text denkt darüber nach, welche Macht Worte haben. Die Inszenierung verschafft dem Text den Raum, den er braucht. (Allerdings frage ich mal wieder, warum solche Art Inszenierung so selten ohne Nacktheit, Theaternebel und Stroboskoplicht auskommt, doch diese Frage lässt sich wohl nicht wirklich beantworten und stört wohl auch nicht.) Die Inszenierung gibt Helles Roman Struktur und macht einige Gedanken klarer. Im Großen und Ganzen ist die Bühnenfassung von „eigentlich müssten wir tanzen“ zwar nicht weltbewegend, aber durchaus sehenswert – den Roman sollte man jedoch wirklich gelesen haben.

“Eigentlich müssten wir tanzen” von Heinz Helle, inszeniert am Schauspiel Leipzig von Daniel Foerster.

Thilo
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Thilo

Hat sich von einer anfänglichen Faszination für Bücher, über erste Leseerfolge zum Bibliomanen entwickelt. Eigentlich hat der Kulturjournalist nur aus Langeweile gelesen, hier mal ein Buch im Zug, mal eines im Urlaub, mal ein bisschen vorm Einschlafen. Nach unausgegorenen Berufswünschen wie Koch, Hornist oder Schauspieler, verschlägt es ihn zum Studium der Theaterwissenschaft nach Leipzig und in die Redaktionsräume des Ausbildungsradios mephisto 97.6. Ganz beiläufig lässt er hier fallen, dass er eigentlich ganz gerne mal ein Buch lese. Schon einen Monat später leitet er – hopplahopp – die Literaturredaktion und Lesen wird zum Exzess (in den Tagen vor Buchmessen liest er gerne Nächte und Tage durch). Inzwischen spricht er hin und wieder bei MDR Kultur und dem Deutschlandfunk über Literatur, Theater, Musik, neue Medien und alles was die Leute (oder: ihn) interessiert. Sein Ziel: Der nächste Marcel Reich-Ranicki (und ein bisschen Gerhard Stadelmaier) werden – nur besser aussehend … und vielleicht etwas umgänglicher. So lange vergnügt er sich weiter auf schraeglesen.de

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