Verirrt im Gedächtnispalast

Gerade der WDR ist für Hörspiel-Innovationen bekannt. Und so überraschte es auch nicht, dass sie 2015 zu dem Hörspiel „39“auch ein HörSpiel veröffentlicht haben. Es war eine App mit der man sich durch die Geschichte  hindurchbewegen kann – aber wie groß ist der Unterschied zum Radiohörspiel?

Mit einer Kugel Kaliber 38 lassen sich die Gedanken nur schwer ordnen. Deswegen fällt es Richard Hannay schwer, sich an alles zu erinnern und zu verstehen, was passiert ist. Er wacht auf, um ihm das Piepen des Herzmonitors und die Geräusche des Krankenhauses. Vor ihm stehen zwei Ermittler, die wissen wollen, was passiert ist und was es mit dieser Frau auf sich hat, die die Kugel in ihrem Kopf nicht überlebt hat. Doch Hannay hat keine Ahnung, langsam tastet er sich zusammen mit dem Hörer durch nähere und fernere Erinnerung über seinen Sohn Andrew, seine Frau Annie und ihre Freundin Dorith. Mit ihr zusammen demonstriert sie gegen die Ausbeutung Afrikas und die Schattenseiten der globalisierten Politik. Doch wie weit sie dabei gehen wollten, hat Hannay nie erfahren, denn er gehört in ihren Augen schon zum Feind.

Globalisierte Angst

Für diesen Hörthriller haben Achim Fell und sein Team ein äußerst politisches Setting gewählt, dem letztlich auch eine überzeugende Wahrscheinlichkeit innewohnt. Da geht es nicht um den größenwahnsinnigen Plan für ein Attentat, nicht einmal große Verschwörung, die die Geschicke unserer Welt lenkt. Es geht um extremen Protest der Globalisierungskritiker. Das gibt der Geschichte auch die reizvolle Stimmung des Realistischen. Es gibt den Autoren aber auch die Möglichkeit, ernsthafte Themen, wie die Situation in Afrika. Doch das passiert nur am Rande, im Zentrum steht die verzweifelte Suche des Protagonisten, die Unsicherheit von dem, was vor sich gehen könnte und die bröckelnde Beziehung zu seiner Frau.

Wofür steht das „interaktiv“

Doch der Geschichte spürt man nur stückchenweise nach: Der Spieler sucht einzelne Erinnerungen, aktiviert Gedanken hört Gespräche und Nachrichten zu. Letztlich eine ziemlich klassische Form für non-lineares Erzählen, wie sie auch B.S. Johnson für seinen Roman „Die Unglücksraben“ nutzte. Doch scheinbar war bei „39“ die richtige Reihenfolge doch zu wichtig, so dass der Zusatz interaktiv mehr wie eine Übertreibung wirkt. Die Aktionen des ‚Spielers‘ beschränken sich auf wischen, tippen und zoomen. Er kann auswählen in welcher Reihenfolge er ausgewählte Erinnerungen abspielen kann, aber selbst das wirkt wie eine kreative Form der Trackwahl. Die Geschichte läuft mehr oder weniger durch und auch sonst wenig zu tun. Er muss sich weder Herausforderungen stellen, noch kann er Einfluss auf die Geschichte nehmen und dass ständige Starten des nächsten Tracks bedeutet zwar interaktion, jedoch rechtfertigt es nicht wirklich das Label ‚interktiv‘.

Sound-Skulptur

Was diese Produktion jedoch auszeichnet, ist ihr Design. Die Optik der App besticht zwar nicht durch spannende Videos, aber die Bilder fangen die Stimmung der Audios sehr gut auf. Aber viel wichtiger ist das Audiodesign und das ist großartig. Nicht umsonst ist der Werbespruch „Hörspiel für Kopfhörer“, denn selbst mit meinen Köpfen im Ohr fühlt sich der Hörer in die Geschichte versetzt. Die Geräusche sind rechts und links, oben und unten. Das ist besonders spannend in den Erinnerungsräumen: nebelverhangene Hallen in denen man in Erinnerungen eintreten kann und tatsächlich hört man die Erinnerung schon, sodass man weiß, wohin man sich als Nächstes wenden muss. Die spezielle Aufnahmetechnik und die Expertise von „Dear Reality“ haben sich also gelohnt. Im Gegensatz zur App, denn den großartigen Sound der Story können die Hörer mit einem normalen Hörspiel erleben.

Die App „39“ ist kostenlos im App Store und bei Google Play verfügbar, das Hörspiel auf der Website des WDR.

Thilo
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Thilo

Hat sich von einer anfänglichen Faszination für Bücher, über erste Leseerfolge zum Bibliomanen entwickelt. Eigentlich hat der Kulturjournalist nur aus Langeweile gelesen, hier mal ein Buch im Zug, mal eines im Urlaub, mal ein bisschen vorm Einschlafen. Nach unausgegorenen Berufswünschen wie Koch, Hornist oder Schauspieler, verschlägt es ihn zum Studium der Theaterwissenschaft nach Leipzig und in die Redaktionsräume des Ausbildungsradios mephisto 97.6. Ganz beiläufig lässt er hier fallen, dass er eigentlich ganz gerne mal ein Buch lese. Schon einen Monat später leitet er – hopplahopp – die Literaturredaktion und Lesen wird zum Exzess (in den Tagen vor Buchmessen liest er gerne Nächte und Tage durch). Inzwischen spricht er hin und wieder bei MDR Kultur und dem Deutschlandfunk über Literatur, Theater, Musik, neue Medien und alles was die Leute (oder: ihn) interessiert. Sein Ziel: Der nächste Marcel Reich-Ranicki (und ein bisschen Gerhard Stadelmaier) werden – nur besser aussehend … und vielleicht etwas umgänglicher. So lange vergnügt er sich weiter auf schraeglesen.de

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