Selbstbehauptung zwischen Häuserblocks

Buch 2 unserer #dicestories Buchvorstellung: Die besondere Sprache hat der Autorin Verena Güntner schon vor der Veröffentlichung von “Es bringen” zahlreiche Ehrungen eingebracht und ihren Roman zu einem heißumkämpften Titel für die Verlage gemacht. Denn ihre Sprache ist authentisch genug für eine Milieustudie und poetisch genug für die anspruchsvolle Literatur.



Twitter-Rezi: 

Güntner: Es bringen @kiwi_verlag. Die Selbstbehauptung von Großstadtjugendlichen. Bringer sein und Kontrolle verlieren. Bildstarke Sprache.


Es ist wohl die schwierigste Zeit im Leben eines Mannes, von der Verena Güntner in ihrem Roman “Es bringen” erzählt: Momente, bevor er kein Kind mehr ist. Luis steht genau vor diesem Schritt, aber er ist guter Dinge, denn er ist ein Bringer. Er ist Trainer und Mannschaft zugleich, der Trainer ist sein Kopf, sein Körper die Mannschaft. Und er hat es inzwischen weit gebracht. In seiner Clique ist er der stellvertretende Chef. Über ihm steht nur noch der schon 20-Jährige Milan, ein Deutsch-Pole mit leichten Identitätsproblemen, mit dem Luis durch Dick und Dünn geht. Zusammen prägen sie ihr Viertel: Sie trinken am Wochenende an ihrem Stammplatz und bestimmen die Freibad-Saison. Auch die Frauen dürfen natürlich nicht fehlen, für Luis eine leichte Übung: mit sogenannten Fickwetten bessert er sein Taschengeld auf. Doch trotz der vielen Frauen geht nichts über Ma, die immer die beste bleiben wird. Doch Luis ist nicht nur hart, auch er erlebt Rückschläge und hat Zweifel.

Jennys Kopf hämmert gegen die Metallkringel am Kopfende ihres Bettgestells. Ich richte mich auf, hebe beide Hände vors Gesicht. Plötzlich das Gefühl, als ob mir jemand erst die Faust, dann den ganzen Arm in den Mund steckt, ihn die Luftröhre abwärts bis in meine Lunge schiebt. Blutiger Flügel, zittert im Wind. Spatzen sterben genauso schnell wie Meisen. Der Flügel wischt über mein Gesicht. Wieder. Und wieder. Bekomme keine Luft. Kein Vogel schmeckt so süß wie sie.

Güntners Debüt ist geprägt von Brüchen auf allen Ebenen. Der größte Bruch zeigt sich im Protagonisten selbst, dessen Geist offensichtlich seinen Körper drillt. Ein Junge, der sensibel ist, sich aber hart gibt. Verena Güntner analysiert die Probleme des Pubertierens: Erwachsen sein wollen, keine Schwäche zeigen, aber dennoch eine sanfte Seite haben – und Kind bleiben. Für Luis ist Sex eine Form, um vom Jungen zum Mann zu werden, wie er immer wieder betont. Allerdings am Ende macht er ein Spiel daraus, das nicht anders klingt, als jeder andere Sport. Dabei betrachtet Güntner auch immer wieder Geschlechterrollen: Sie schreibt über abwesende Väter und fürsorgliche Mütter, über promiskuitive oder unscheinbare Mädchen, über unbarmherzige oder verunsicherte Männer. Das Problem für Luis ist, sich in dieser Welt zurecht zu finden, seinen Platz einzunehmen und vor allem das Wanken seines Weltbildes zu überstehen.



Schreibt uns eine #dicestory: Wir haben auf Twitter unsere erste 100-Follower-Marke geknackt! Zum Dank haben wir für euch Thilos Bücherschrank geplündert und fünf Bücher ausgesucht, von denen jeweils ein Buch an die kreativsten Köpfe unter euch gehen sollen. (Günters Debütroman “Es gibt” könnt ihr auch gewinnen.) Die Wahl ist dabei ganz euch überlassen. Was ihr dafür machen müsst: Schreibt uns zu den einem dieser beiden Bilder eine Kurzgeschichte. Mehr Infos dazu gibt’s hier.



Der erste Freibadtag ist immer der komplizierteste. Denn unser Plan ist: eine Marke setzen für den Rest der Saison. Wenn wir den ersten Freibadtag verhauen, verhauen wir die ganze Saison. So ist das. Und das will keiner! Eine schlechte Saison ist ne ganz üble Sache. Jeder, der das mal erlebt hat, versucht alles damit das nie wieder passiert.

“Es bringen” blickt aber auch in eine bestimmte Gesellschaft. Eine Siedlung in einer unbenannten Großstadt, die dennoch eher etwas von einem kleinen Dorf hat. Jeder bleibt in seinem Bereich, versucht seine Lebensrealität nicht zu verlassen und jeden Tag dasselbe zu machen. Dabei scheint jeder jeden zum kennen und baut auf eine gewisse Tradition. Das Milieu greift Güntner auch in ihrer Sprache auf. Sie lässt Luis in einem gewissen Ghetto-Slang sprechen. Kurze abgehackte Sätze, ständig wiederkehrende Formulierungen und ganz eigene Worte, die den speziellen Alltag beschreiben. Manchmal fragt sich der Leser, wie wahr diese Beschreibung ist, ob ein Jugendlicher aus diesem Milieus immer so redet und vor allem immer so denkt. Teilweise scheint es doch etwas viel, aber es wird deswegen nicht weniger authentisch. Mit Luis hat Güntner eine Figur geschaffen, die einfach so ist, und man nimmt ihr dieses Reden ab, das einen eigenen Fluss besitzt. Obwohl es auch hier Brüche gibt, die sich allerdings in den gesamten Text einfügen. Denn manchmal hört man auch die Autorin, dann kommt Luis zur Ruhe, bevor er sich wieder in seinen Slang rettet.

Es war stiller geworden auf der Terasse. Ich sah mich um, sah Richtung Geländer. Nur noch drei Leute standen dort. Niemand trug Rosa. Die Leere Fantaflasche vor mir, irgendwas war passiert. Ich wusste nicht was, ich stieß den Trainer an, aber er blieb stumm.

Güntner legt einen sehr eigenwilligen, wenn auch nicht ungewöhnlichen Roman vor, der zu Recht bereits im Vorfeld mit Preisen ausgezeichnet wurde, wie dem Kelag-Preis bei den Tagen der deutschsprachigen Literatur. Denn Güntner bleibt ausgewogen, sie schreibt eine Milieustudie, doch sie übertreibt nicht. Statt große Ereignisse zu entwickeln konzentriert sie sich auf ihren Protagonisten. Auch hier passiert wenig, obwohl Luis einiges zustößt, entwickelt er sich kaum. Seine Erlebnisse scheinen kaum Effekt zu haben auf den Jungen. Vielleicht geschieht das nur sehr langsam. Im Gegensatz zur Sprache, die immer vorwärts drängt und den Roman auszeichnet. Denn Verena Güntner entwickelt in ihrem Debüt einen ganz eigenen Ton, der den Roman „Es bringen“ unbedingt lesenswert macht.

Verena Güntner: Es bringen. Kiepenheuer & Witsch, 250 Seiten, 9,99€


Thilo
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Thilo

Hat sich von einer anfänglichen Faszination für Bücher, über erste Leseerfolge zum Bibliomanen entwickelt. Eigentlich hat der Kulturjournalist nur aus Langeweile gelesen, hier mal ein Buch im Zug, mal eines im Urlaub, mal ein bisschen vorm Einschlafen. Nach unausgegorenen Berufswünschen wie Koch, Hornist oder Schauspieler, verschlägt es ihn zum Studium der Theaterwissenschaft nach Leipzig und in die Redaktionsräume des Ausbildungsradios mephisto 97.6. Ganz beiläufig lässt er hier fallen, dass er eigentlich ganz gerne mal ein Buch lese. Schon einen Monat später leitet er – hopplahopp – die Literaturredaktion und Lesen wird zum Exzess (in den Tagen vor Buchmessen liest er gerne Nächte und Tage durch). Inzwischen spricht er hin und wieder bei MDR Kultur und dem Deutschlandfunk über Literatur, Theater, Musik, neue Medien und alles was die Leute (oder: ihn) interessiert. Sein Ziel: Der nächste Marcel Reich-Ranicki (und ein bisschen Gerhard Stadelmaier) werden – nur besser aussehend … und vielleicht etwas umgänglicher. So lange vergnügt er sich weiter auf schraeglesen.de

2 Kommentare:

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