Selbstanzeige

Jeden Tag müssen wir uns selbst befragen, ob wir alles richtig machen. Denn die Wege sind längst nicht mehr so klar vorgezeichnet wie noch Jahre zuvor, und so wird auch die Angst vor der falschen Abzweigung immer größer und wir beschuldigen uns selbst für jede falsche Entscheidung, sei sie noch so banal. Dieses seltsame Gefühl wollte Interrobang mit der Performance „Der Prozess 2.0“ bewusst machen. Weil ich kafkaesk natürlich wunderbar finde, habe ich mich hineinbegeben, in das, was die Künstler “Schuldlabyrinth” nennen.

Foto: Renata Chueire

Jemand mußte Josef K. verleumdet haben, denn ohne daß er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet.

Franz Kafka: “Der Prozess”

So beginnt der berühmte, obwohl unvollendete Roman “Der Prozess” von Kafka über einen Bankprokurator, auf dem die Performance basiert. Kafka erzählt, wie K. vor ein unwirkliches Gericht gerufen wird und sich durch die Irrwege von Bürokratie und Schuldsprechung zu kämpfen versucht. Doch heute bin ich zusammen mit 38 anderen Theaterbesuchern K. Ich trete in den Theaterraum ein, bekomme eine Nummer und eine Akte zugeteilt. Damit begebe ich mich in das Labyrinth[1] der Möglichkeiten.

Irrwege der Formulare

In diesem Fall sind es vor allem gelbe Stellwände, die ein Wirrwarr von Wegen begrenzen. Mit Zetteln werden Orte aus dem Romanfragment behauptet, wie die Bank und Fräulein Bürstners Wohnung. An die Wände wurden mit Klebestreifen Zitate aus dem Roman gehängt. Ich schaue mich etwas um im Labyrinth, bis meine Nummer gerufen wird. Dann bekomme ich meinen ersten Auftrag, denn das Labyrinth ist, wie auch im Roman, eine Metapher der komplexen Bürokratie. In diesem Fall aber auch Sinnbild einer Welt voller scheinbarer Wahlmöglichkeiten. Ich muss Formulare ausfüllen, mich für Politik oder Liebe entscheiden. Dann bekomme ich Aufträge: Ich soll die politische Stimmung messen, die anderen Besucher verdächtigen (die beste Überwachung ist die durch die Mitmenschen, das wusste man in der DDR ja schon), sogar mit ihnen ins Gespräch kommen, eine politische Richtung festlegen. Ich bin selbst Protagonist dieser Geschichte und bestimme ihren Weg, wenn ich mich nicht verweigere (ein Besucher hat sein Formular an die Wand geklebt und gegen die Datensammelwut geklagt).

Doch das Labyrinth steht nicht nur für die Unübersichtlichkeit, die unüberschaubaren Möglichkeiten und Forderungen. Es ist natürlich auch ein Werkzeug der Selbsterkenntnis. Das Labyrinth sollte schon immer anregen, sich um sich selbst zu drehen, um jeden Blickwinkel einzunehmen, um den Weg in das eigene Innere zu finden. Doch bei Interrobang ist das kein allein meditativer Prozess. Die Aufträge fordern mich auch immer wieder auf, mich mit mir selbst zu beschäftigen. Welche Aussagen treffen auf mich zu und warum, wie lebe ich, was möchte ich erreichen – das sind einige der Fragen, die sowohl dazu führen sollen, mich näher kennen zu lernen, als auch das ständige selbst Hinterfragen zu spiegeln.

Ich erledige meine Aufgaben mit viel Spaß (zum Glück ist ja alles nur ein Spiel), aber ich frage mich auch ständig, ob ich es gut genug mache, schnell genug und ob ich nicht doch lieber die Liebe, statt die Politik gewählt hätte. Dann werde ich wieder an die Information gebeten und anschließend in die Pause geschickt.

In dubeo pro reo

Bis hier hin war der Abend äußerst selbst bestimmt. Sehr geschickt hat die Anlage der Installation mich geführt und die Motive des Romans eingebunden und ihre heutige Relevanz bewiesen. Jetzt sind wir beim Gericht angekommen: Wir sind potentielle Angeklagte und Geschworene vor dem Inneren Gericht, die in Form der drei Amtshelfer vor uns sitzen. Sie nehmen einzelne Akten und versuchen an den Formularen nachzuweisen, wessen sich die Besucher schuldig gemacht haben. Es sind Anklagen der Neuzeit, derer wir uns ständig selbst verdächtigen, die wir aber meistens wegschieben: Zynismus, mangelnde Selbstverwirklichung, Workaholismus. Mit viel Fantasie, Improvisation und etwas Komik zeichnen die Ankläger und Verteidiger unseres Inneren Gerichtes ein Bild des Vergehens und des Täters, der sich schließlich zeigen muss. Wir stimmen über die Schwere der Schuld ab und zwingen sie damit den Saal zu verlassen und ihre Strafe wie Besinnung oder Nichtstun anzutreten.

Die Verhandlung mit ihren Argumenten wirkt etwas leichtfertig, aber was erwartet man auch, wenn das Gericht nur die 20 Pausenminuten hatte. Allerdings sind die Begründungen etwas hanebüchend, und ein paar psychologischere Fragen hätten dem vielleicht mehr Tiefe gegeben. Doch ich fürchte, die Anklagen kommen dem trotzdem immer sehr nah. Im Anklagewirbel, als nicht mehr richtig verhandelt wird, sondern nur noch Anklagen in den Raum geworfen werden, wird auch meine Akte herausgezogen: Workaholismus, denn meine Arbeit macht mir Spaß (immerhin ist mein Theaterbesuch auch Arbeit, wer könnte mir die Aussage verübeln), im Nachhinein frage ich mich, ob ich vielleicht Widerspruch hätte einlegen sollen, aber leider zu spät – verurteilt.

Das Gericht steht auch für die Tendenz unserer Gesellschaft, sich ständig selbst schuldig zu sprechen, sich immer zu optimieren, sich anpassen zu wollen. Leider funktioniert das bei diesen Anklagepunkten nur bedingt, denn dieser Vergehen beschuldigt sich keiner, höchstens der zu wenig zu arbeiten. Aber auch die Parodie geht nicht ganz auf, denn die Anschuldigungen sind ernst zu nehmen. Wir leben in einer Überleistungsgesellschaft, die selten an feste Werte glaubt.

Dennoch war es ein anregender Abend, der äußerst geschickt gebaut war, vor allem weil er so viele Aspekte miteinander verknüpft hat. Am Ende hat er zwar etwas Schlagkraft verloren, aber ich würde ein weiteres Mal hingehen, einfach um auch mal die Liebe zu probieren.

[1] Dabei ist mir bewusst, dass ein Labyrinth nie verschiedene Wege zulässt, sondern einen verwinkelten Pfad ohne Abzweigungen bezeichnet. Richtiger wäre eigentlich Irrgarten. Aber die Performance nennt es Schuldlabyrinth, und es klingt viel besser und jeder weiß, was gemeint ist.

“Der Prozess 2.0. Ein Schuldlabyrinth nach Kafka” ist eine Performance der Berliner Gruppe Interrobang am Schauspiel Leipzig, die noch bis zum 1.10.2016 zu sehen ist.

Thilo
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Thilo

Hat sich von einer anfänglichen Faszination für Bücher, über erste Leseerfolge zum Bibliomanen entwickelt. Eigentlich hat der Kulturjournalist nur aus Langeweile gelesen, hier mal ein Buch im Zug, mal eines im Urlaub, mal ein bisschen vorm Einschlafen. Nach unausgegorenen Berufswünschen wie Koch, Hornist oder Schauspieler, verschlägt es ihn zum Studium der Theaterwissenschaft nach Leipzig und in die Redaktionsräume des Ausbildungsradios mephisto 97.6. Ganz beiläufig lässt er hier fallen, dass er eigentlich ganz gerne mal ein Buch lese. Schon einen Monat später leitet er – hopplahopp – die Literaturredaktion und Lesen wird zum Exzess (in den Tagen vor Buchmessen liest er gerne Nächte und Tage durch). Inzwischen spricht er hin und wieder bei MDR Kultur und dem Deutschlandfunk über Literatur, Theater, Musik, neue Medien und alles was die Leute (oder: ihn) interessiert. Sein Ziel: Der nächste Marcel Reich-Ranicki (und ein bisschen Gerhard Stadelmaier) werden – nur besser aussehend … und vielleicht etwas umgänglicher. So lange vergnügt er sich weiter auf schraeglesen.de

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