Eine Bühne für ein Buch

Es war ein Jahr echter Anarchie, sagt der Autor Peter Richter über die Jahre 89/90. Genau darüber hat er ein Buch geschrieben, mit genau diesem Titel. Weil es den Rechtsextremismus unserer heutigen Zeit erklärt wollten es Theater auch auf die Bühne stellen. In Leipzig war es wie ein Oratorium in einer DDR-Aula.

Foto: Rolf Arnold

Ich komme an – mit dem Buch in Tasche, das ich natürlich durchgelesen habe. Okay, ich habe es eher überflogen. Aber bei diesem Buch ist das halb so schlimm, weil es relativ gut fassbar ist, denn die erlebte Rede ermöglicht einen guten Zugang zur Situation des namenlosen, bestimmt auch autobiographischen Erzähler. Dennoch ist dieses Buch ziemlich clever, wegen der feinen Beobachtung Richters; diesem authentische Lebensgefühl jener Zeit, das der Autor mit einer angenehmen Subjektivität vermittelt; diesem gewissen Sprachwitz und einem gewissen Rhythmus der Erzählung.

Ich verrate – was sowieso jedem klar ist: Es geht um den nicht ganz alltäglichen Alltag der Wendezeit. Der namenlose Erzähler ist gerade 16 geworden und ist voll im Ferien-Feeling. Er erzählt von dem Unterricht in der Schule, seiner Liebe zu L., die wirklich an die Idee der DDR glaubt, von seinem Wehrlager, für das er zu intelligent zu sein scheint. Er besucht auch die Montagsdemos, geht mit großen Augen das erste Mal nach Westberlin. Doch die Stimmung kippt schnell in dieser Geschichte, denn es geht nicht nur um das unbedarfte Gefühl der ausgehenden DDR, es geht um den Verlust von Grenzen. Der Erzähler fragt, wer wir sind und warum es auf einmal jeder gegen jeden geht und zwar nicht auf die gute Art, wie beim Pogo.

Ich sehe – den Zuschauerraum, der bis auf die Bühne verlängert wird, denn dort hängen die gleichen Lampen – wir gehören mit dazu. Allerdings sieht die Bestuhlung und die Vertäfelung („wenn unser kleines Land etwas hervorgebracht hat, dann sind es Wörter die auf –ung enden“) erinnern schon an DDR-Versammlungsräume, ebenso wie die Kleidung des Chores, die gleichgeschaltete und dann auch wieder zerrissene Volksmasse. Claudia Bauer arbeitet auch wieder mit ihren üblichen Mitteln: Es gibt Live-Kamera-Bilder aus einem Raum, der über der Zeit zu schweben scheint und den man durch die Projektion sehen kann. Da laufen seltsam verformte Menschen über die Bühne mit großen Ohren und langen Nasen an ihren Medizinballgroßen Köpfen, die in einer seltsamen Choreographie durch die Bühnenluft schwimmen, wie in einem seltsamen Fiebertraum. Denn der Rest der Inszenierung gleicht eher Ansprachen im Verein, dem Schulunterricht oder Gespräche auf dem Schulhof.

Foto Rolf Arnold

Ich höre – eine vielseitige Stimmen-Sinfonie aus Texten des Romans. Die Adaption hält sich sehr genau an das Buch nicht nur in der Szenenfolge, sondern auch in der Wortwahl. Ständig erkenne ich die Textfetzen wieder, die relative clever auf die sechs Schauspieler aufgeteilt wurde, sodass die Geschichte dieses einzelnen zu den Geschichten einzelner Figuren wurden, in die die Schauspieler verwandeln und den Texten Gefühl verleihen, wenngleich vielleicht manchmal etwas zu viel. Diese Mengen an Text werden untermalt von flächigen elektronischen Klängen von Peer Baierlein und einem expressionistischem Chor, der schleifenartig lyrische Momente des Textes singt, als Mantra der Unterordnung, als dissonantes Schreien der Demonstranten in ihrer DDR-Kleidung oder als zielloses Wabern der, jetzt in uniformen, seltsamen Anzügen. All das mischt sich wunderbar zusammen, sodass die Aufführung mehr an eine Klanginstallation denn an ein Drama erinnert.

Ich beobachte – eine wohlchoreographierte Inszenierung, bei der jede Aktion sich wunderbar ein die Inszenierungspartitur einfügen. Gleichzeitig ist aber auch klar, dass es sich mehr um eine Arrangement, denn um eine Komposition handelt, denn der Roman gibt ganz klar die Struktur vor. Der Text steht auf der Bühne und das Team hat für die Szenen den Buches versucht klare theatrale Umsetzungen zu entwickeln: Der Anfang scheint wie ein Erinnerungsaustausch zu sein, doch die Frage, die sich mir stellte, war – wie so oft bei Ich-Erzählern – wem erzählen die das? Sie sitzen vertraut zusammen, also ob sie sich zusammen erinnern, aber die großen Mikrofone machen es so seltsam öffentlich. Dann setzen sich die Schauspieler zwischen die Damen und Herren des Chores, denn der Text geht auch immer wieder auf dieses Wir-Gefühl ein, das die Wende so unterschwellig zentral begleitet hat, dieses Volk-gegen-Staat, bevor es in ein ‚Wer bin ich eigentlich‘ umschlug. Sie sitzen da in der Masse (auch wenn sie sich leider nie wirklich einfügen) und werden da auf Staat getrimmt, in der Schule oder im Wehrlager. Dann brechen sie wieder aus, tanzen langsamen, streiten sich oder zittern in der Ecke oder klammern sich an den 40. Geburtstag der kleine Nie-Bananen-Republik, hier sieht man schon langsam das Selbstzweifeln, das sowohl typisch für die Pubertät aber auch für die Auflösung des Staates sein könnte, die jedoch wieder übernommen wird von der Gleichschaltung des Kapitalismus. Die Reise in den Westen wird gezeigt durch ein Aufbrechen der Aula und wird begleitet durch zahlreiche seltsam perverse Werbespots. Und hier beginnt das, was den Text so spannend macht, diese Selbstbefragung, dieses wegbrechen von dem, was alle auf Linie gebracht hat. Die Gewalt bricht sich Bahn, dieses Gefühl nie gefragt worden zu sein, das bis heute spürbar ist. Die Szenen wiederholen sich immer wieder seltsam, es sind formale Reprisen mit neuen Inhalten. Ganz untergründig lässt sich da eine Anklage an das heute finden. Wie schon ein Plakat sagte. „Habt ihr nichts gelernt aus Rostock-Lichtenhagen?“

Ich fühle – erstaunlich wenig. Ich überlege vielmehr. Ich versuche die Szenen zu erkennen, weil es eben so einfach ist und diese Umsetzung zu analysieren. Aber da ist auch viel Humor, teilweise sehr guter, teilweise auch sehr spezifischer, den eher die Leute desselben Jahrgangs verstehen. Und da ist große Bewunderung für die Leistung der Performer, die sich immerhin den ganzen Romantext draufgezogen zu haben scheinen und so locker reproduzieren und dabei diesen wunderbaren Takt halten.

Ich sage – gut gemacht, aber vielleicht etwas zu viel bei etwas zu wenig. Eigentlich finde ich die Wahl schon seltsam: Diese Buch funktioniert für sich ganz wunderbar, warum muss das Theater das an sich reißen? Aber nun sie haben es getan und das Buch für die Bühne adaptiert, dabei aber nicht viel gewagt. Denn auf der Bühne steht ziemlich genau das Buch, natürlich denn die Geschichte allein ist gar nicht so spannend, vielen noch bekannt, es war doch viel mehr die konkrete Beschreibung. Deswegen wird das Buch nicht für die Bühne umgewandelt, sondern vielmehr Kapitel für Kapitel auf die Bühne gestellt, mit – wie schon gesagt – wunderbaren Ideen, aber dennoch bleibt ein Eindruck, dass es sich hier um eine sehr aufwendig gemachte szenische Lesung handelt, die doch etwas an großem Theater vermissen lässt. Mit seiner Spieldauer von drei Stunden (ja ich weiß, da können Wilson und Castorf und die barocke Oper nur lachen, aber es geht um subjektive Zeit) zieht es sich gegen Ende etwas, vielleicht auch, weil das Team den ganzen Roman auf die Bühne bringen wollte und sich auf nichts konzentrieren wollte. Das was sie gemacht haben, haben sie wunderbar gemacht, mit Gespür für Timing und guten Ideen, aber der große Aha-Effekt bliebt etwas aus.

89/90, nach dem Roman von Peter Richter, Schauspiel Leipzig, Inszeniert von Claudia Bauer, Musik von Peer Baierlein, Ausstattung von Andreas Auerbach und Doreen Winkler.

Thilo
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Thilo

Hat sich von einer anfänglichen Faszination für Bücher, über erste Leseerfolge zum Bibliomanen entwickelt. Eigentlich hat der Kulturjournalist nur aus Langeweile gelesen, hier mal ein Buch im Zug, mal eines im Urlaub, mal ein bisschen vorm Einschlafen. Nach unausgegorenen Berufswünschen wie Koch, Hornist oder Schauspieler, verschlägt es ihn zum Studium der Theaterwissenschaft nach Leipzig und in die Redaktionsräume des Ausbildungsradios mephisto 97.6. Ganz beiläufig lässt er hier fallen, dass er eigentlich ganz gerne mal ein Buch lese. Schon einen Monat später leitet er – hopplahopp – die Literaturredaktion und Lesen wird zum Exzess (in den Tagen vor Buchmessen liest er gerne Nächte und Tage durch). Inzwischen spricht er hin und wieder bei MDR Kultur und dem Deutschlandfunk über Literatur, Theater, Musik, neue Medien und alles was die Leute (oder: ihn) interessiert. Sein Ziel: Der nächste Marcel Reich-Ranicki (und ein bisschen Gerhard Stadelmaier) werden – nur besser aussehend … und vielleicht etwas umgänglicher. So lange vergnügt er sich weiter auf schraeglesen.de

3 Kommentare:

  1. Komisch, Du hast das Buch ‘überflogen’, weißt aber ganz genau, welche Texte verwendet werden und was 1:1 wiedergegeben wird !?
    Ich habe das Buch auch gelesen und den Abend auch gesehen. ‘Den ganzen Romantext draufgeschaftt haben’?? Ich glaube, dann würde der Abend 9 Stunden gehen.
    und auch hier:
    ‘Dieses Buch funktioniert für sich ganz wunderbar, warum muss das Theater das an sich reißen?’ ‘Okay, ich habe es eher überflogen’.
    und nochmal:
    ‘Denn auf der Bühne steht ziemlich genau das Buch’ ‘Okay, ich habe es eher überflogen’.
    Hast Du ein fotografisches Gedächtnis?
    und:
    ‘Kapitel für Kapitel auf die Bühne gestellt’ hast Du Dich schon jemals (auch wenn Du Theaterwissenschaftler bist), ernsthaft mit Theater beschäftigt?
    Hast Du irgendeine Ahnung, wie lange ein Theaterabend werden würde, der ein 400 Seiten Buch ‘Kapitel für Kapitel’ auf die Bühne bringt?
    Entschuldigung, aber was Du schreibst ist von einer sachlichen Kritik sehr weit entfernt. Etwas mehr Tiefgang wäre schön und wenn Du nächste Mal etwas schreibst, dann überfliege denn Stoff bitte nicht nur, sondern beschäftige Dich ernsthaft damit – oder laß es besser bleiben.

    • Vielen Dank erstmal, dass Sie den Text so aufmerksam gelesen haben. Allerdings bedauere ich Ihren scharfen Ton. Ich hätte mich mehr gefreut, wenn Sie ihre eigene Sicht auf die Inszenierung wiedergegeben hätte, anstatt sich an dem Understatement aufzuhängen, dass ich das Buch eben nicht Wort für Wort gelesen habe. Da eine ganz sachliche Kritik schwer möglich ist (denn es ist ja immer Meinung), betone ich durch das ‘ich’ die Subjektivität ja auch bewusst. Und mein Eindruck war, dass es viel Text, dass es teilweise viel Text war, der mehr deklamiert wurde und dass sich die Inszenierung sehr genau an die Struktur des Buches gehalten hat. Ich hätte mir einfach einen mutigeren fokussierteren Umgang mit dem Text gewünscht, obwohl die Inszenierung wunderbar funktioniert, wäre sie so noch besser gewesen. Wie hat Ihnen denn der Abend gefallen?

  2. Pingback:Montagsfrage: Hauptsache die Geschichte ist gut | schraeglesen

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