“Darüber denkt bestimmt jeder nach”

Er ist der Mann, der mich zur hohen Literatur gebracht hat. Irgendwie. Dessen verblüffend konstruierten Romane mich immer wieder in freudiges Erstaunen versetzt haben. Doch vielleicht ist “4 3 2 1” der letzte Roman von Paul Auster. Also muss ich die Gelegenheit nutzen, um diesen großartigen Autor auf seiner Lesereise durch Deutschland live zu sehen. Ein erhebendes Erlebnis.

© rbb

Die Veranstaltung war binnen Stunden ausverkauft. Das hört man ja ständig, aber doch nur selten in Verbindung mit einer Autorenlesung. Denn selbst mit bekannten Namen, bemerkenswerten Künstlern und Spottpreisen bleiben in den kleinen Säle oft Plätze frei. Darauf weist der Moderator vor dem fast vollbesetzten Großen Sendesaal des rbb hin, denn hier ist es anders: Als der Autor auf die Bühne kommt, wird er nicht nur mit dem üblichen verhalten intellektuellen Klatschen des Literaturpublikums empfangen, sondern mit tosendem Applaus und Applaus. Denn irgendwie begeistert und berührt Paul Auster seine Leser langhaltig und tiefgehend.

Ein Held in meinem Leben mit der Literatur

Eigentlich bin ich kein Fanboy – eigentlich. Auch hier liegt der Fall ein wenig anders. Wenn ich einen Lieblingsautoren nennen sollte, würde ich erstmal so tun, als müsste ich darüber nachdenken, denn ich kenne doch so viele gute Autoren. Aber eigentlich wüsste ich die die Antworten und eine davon wäre Paul Auster. Denn ich renne nicht umsonst in jeder Buchhandlung, in die ich gehe (und ich gehe in fast jede, an der ich vorbeilaufe), was sie denn von diesem amerikanischen Autoren dastehen haben.

Die Beziehung zu Paul Auster begann für meine Verhältnisse ziemliche früh: Ich war schon immer ein langsames Kind. Ich habe nicht schon in der Grundschule die großen Klassiker gelesen und mich langsam zu den Zeitgenossen der hohen Literatur vorgearbeitet, so wie es bei Paul Austers Protagonisten im “4 3 2 1” klingt. Nein, ich war mit vielleicht 12 Jahren total begeistert von Hörspielen und Hörbüchern und ohne es zu wissen, habe ich mir die Hörspiel-Version von Austers „Hinter verschlossenen Türen“ ausgeliehen. Ich habe nichts verstanden. Möglicherweise war ich nur unaufmerksam, doch nachdem ich gesehen hatte, dass es sich um den letzten Teil einer Trilogie handelt, habe ich es darauf geschoben und gleichzeitig gedacht, dass es zu hoch für mich sei. Aber ich habe Paul Auster nicht vergessen. Vielleicht zwei Jahre später habe ich dann „Mann im Dunkeln“ gelesen und war fasziniert: Diese triste Grundstimmung, diese Kraft des Protagonisten, diese verschiedenen Ebenen und das Vexierspiel mit ihnen, die Kunst Austers philosophisch und gefühlvoll zu sein, gleichzeitig über die Gesellschaft und über die Literatur selbst zu schreiben – ich glaube, das war mein erster Meta-Roman. Dann kaufte ich mir endlich die New-York-Trilogie, die zusätzlich noch diesen Thrill hatte. Wieder dieses Gefühl sich zu verlieren, in den Abgrund zu fallen. Und dieser wunderbare erste Absatz von „Schlagschatten“. Irgendwann habe ich auf Youtube seinen Film „The Inner Life of Martin Frost“ gesehen: So eine simple Idee, aber so gut. Und erneut diese Verbindung von Gefühl und Selbstreflektion. Paul Auster hat mich immer wieder begeistert.

Sein größter Roman

Jetzt liegt hier sein opus magnum „4 3 2 1“. Opus magnum nicht nur weil es  mit Abstand sein dickstes Buch ist, sondern auch, weil es wieder alles aufgreift, sein ganzes Leben umschreibt und in Frage stellt: Paul Auster erzählt ein Leben, ein ganzes Leben von der Herkunft bis zum Tod. Dabei weist das Leben des Archibald Ferguson auch einige Parallelen zu Austers Leben auf, wie die Jugend in Newark, die Vorliebe für Baseball, Leben in Paris, eine Wohnung in New York – natürlich am Riverside Drive. Ferguson ist Autor, Kritiker, Übersetzer, Journalist; belesen, reich, arm, Halbwaise, verstümmelt. Man merkt, es wird langsam zu viel, denn Paul Auster erzählt nicht einfach inspiriert von seinem Leben ein fiktive Biographie, sondern er geht der Frage nach, was wäre wenn … irgendetwas anders gekommen wäre. Eine Frage, die er sich selbst oft stellt und von der er meint, dass sie sich überhaupt jeder stellt.

Ein unvermeidbarer Abend voller Zufälle

Wieder ein gutes Buch, vielleicht das letzte. Auster hält sich da bedeckt. Doch da es vielleicht sein letzter Besuch in Deutschland sein könnte (und es könnte dauern, bis ich mal nach New York komme). Also musste auch ich hin. Ich habe mir erfolgreich eine Karte, nun ja, erbettelt und bin mit dem Bus gen Berlin gerollt.

Erstmal ging es um Zufälle, viele Zufälle. Paul Austers alter Verleger erzählt, wie er seinen Autoren erst in London und dann in Amsterdam (natürlich wollte der künftige Kulturstaatsminister mal was rauchen) bei Lesungen traf. Und seitdem gönnen Sie sich immer eine Flasche guten, teuren Wein, denn es nur in Amsterdam, Rotterdam und New York gibt. Doch der Zufälle nicht genug, liest Hans Zischler den deutschen Text, dessen Bücher wiederrum von Auster besprochen und von Neumann verlegt wurde. Was für ein netter Zufall.

Viele Anekdoten, bekannte Antworten und offene Fragen

Es ist genau diese Stimmung, die den Abend so stark macht. Denn die Fragen des Moderators Thomas Böhm bleiben leider wenig überraschend. Sie wurden alle schon einmal beantwortet und das scheint der Fragende auch zu wissen (wenn ich Fragen stelle, dann will ich selbst überrascht werden). Er lässt Auster erzählen, wie er mit dieser Frage ‘Was wäre wenn’ schon länger herumläuft, wie ihm eines Tages die Idee kam und er sich, anstatt alles im Kopf durchzugehen, sofort an den Schreibtisch gesetzt hat. Wichtig war ihm die klare Ausgangslage: Ein Mensch mit klaren Vorraussetzungen, aber dennoch unterschiedliche Leben, wenngleich alle sich um das Schreiben drehen, doch eben alle anders. Der Moderator wendet ein, dass es erstaunlicherweise nicht einfach Fergusons Entscheidungen sind, sondern ganz klar seine Umwelt ist, die sein Leben in andere Bahnen lenkt. Eben ob sein Vater nur tot ist oder ganz reich wird (was laut Auster wieder zu eigenen Problemen führt). Sie kommen auf Amy Schneiderman zu sprechen, die das weibliche Pendant zu Archie Ferguson bildet, ihm in jedem Leben begegnet und beeinflusst.

Auf den Titel “4 3 2 1” angesprochen berichtet berichtet von seinem Jugenderlebnis, als er während eines Sommercamps in einer Gruppe unterwegs war und von einem schweren Gewitter überrascht wurde. Als sie versuchten sich in Sicherheit zu bringen, klettern sie durch einen Zaun. Kurz bevor der junge Paul an der Reihe sein sollte, schlägt der Blitz ein, tötet den Jungen vor ihm. Nur wenige Sekunden trennen den später so berühmten Autoren vom Tod. Diese plötzlichen Todesfälle schleichen sich auch in den Text ein, der größte Zufall, der das Leben so nachhaltig verändert.

Der Thomas Böhm fragt, nach einem Gleichnis, dass sie die Jungen in Fergusons Camp erzählen, eine Art philosophisches Gedankenspiel, dass auch die Struktur des Romans spiegelt: Nimm an, du hast eine wichtige Verabredung, die dein Leben beeinflussen wird, die du um keinen Fall verpassen darfst. Dir stehen zwei Wege zur Auswahl: Die Hauptstraße, die zwar verstopft sein wird, mit der du es aber sicherlich knapp schaffen würdest. Oder die Landstraße, auf der du schneller wirst, die aber, wenn hier etwas passiert, komplett gesperrt wäre. Welchen Weg nimmst du?

Die Lösung ist natürlich unmöglich, weil niemand weiß, was passiert. Die falsche Wahl zeigt sich immer erst im Nachhinein. An der Stelle hätte ich doch gerne gewusst, ob sich Auster mit seinen Parallelwelten seinen schicksalhaft verbundenen Figuren und diesem “Schrödingers Katze”-gleichen Experiment, mit der Quantenmechanik auseinandergesetzt hat. An der Stelle hätte mich auch interessiert, wie er diesen Roman überhaupt geschrieben hat. Denn diesmal gab es wohl keine langen Denk- und Konstruktionsphasen. Hat er jeden Ferguson für sich geschrieben? Hat er die Spiegelungen immer gleich mitgedacht, wusste er wie Archie mit Amy zusammenkommen würde? Und kann ich in dem Buch auch erstmal nur die erste Version lesen, oder ist das zu blöd? Vielleicht sollte ich Paul Auster mal einen Brief mit all diesen offenen Fragen schreiben.

Der stille Autor wird laut

Über die Frage danach, wie die Gesellschaft uns beeinflusst (natürlich sehr), kommen sie auch zu einem Kernthema der letzten Monate. Vielleicht der Grund, warum Paul Auster inzwischen überhaupt so bereitwillig Interviews gibt. Nachdem er doch früher meinte, dass es müßig wäre über die eigene Literatur zu referieren und dass das Interview sowieso eine billige Form der Literatur sei. Es geht um Trump, den Auster gar nicht beim Namen nennen will und seine Verachtung ihm gegenüber klar zum Ausdruck bringt. Er verbindet seinen Ausführungen auch mit seinem Roman “4 3 2 1”, der auch ein Porträt der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist, über Bürgerrechtsbewegung, Rassismus, Studentenrevolte. Auster habe das Gefühl, dass die Zeit wieder zurückgedreht wurde, als ob die 60er Jahre wieder da wären, als ob Amerika einen Rückschritt gemacht hätte. Lange sollte der Titel des Buches einfach Ferguson sein, doch nach der Erschießung eines unbewaffneten Schwarzen durch einen weißen Polizisten war das nicht mehr denkbar. Das zeigt, dass die Rassenfrage immer noch gestellt. Auster erläutert auch, was seiner Meinung nach das Problem sei und zeigt Deutschland als positives Beispiel: Er lobt den Umgang mit der Naziherrschaft und dem Holocaust (denn auch das jüdische Leben spielt eine Rolle in „4 3 2 1“), denn es sei gut und wichtig auch diese dunklen Stellen zu verarbeiten. In Amerika hingegen mangelt es an Museen über Sklaverei oder dem Völkermord an den Ureinwohnern und wer sich nicht mit schlimmen Momenten seiner Vergangenheit auseinandersetzt, der gar nicht richtig funktionieren.

Der unmittelbare Anblick

Starke Worte zu Schluss, die der Moderator – eigentlich sehr schön – mit dem witzigen, einem jüdisch-amerikanischen Witz nachempfundenem Beginn oder der hoffnungsvollen Geburt abrundet: Für wenige Sekunden war er das jüngste Lebewesen auf der Erde.

Vielleicht fragen sich dennoch einige, warum ich mir die Mühe gemacht habe, die Odyssee vom bürgerlichen Leipzig ins molochartige Berlin (ein kleiner Scherz) anzutreten. Wo ich doch jetzt wenig Neues erfahren habe, eigentlich die ganze Veranstaltung live im Radio oder im Internet hätte verfolgen können. Und ja ich hätte mir mehr gewünscht, auch eine persönliche Widmung, statt nur einem kurzen Signum in meiner Ausgabe, vielleicht sogar einige Worte. Aber da war trotzdem diese Aura, die man großen Persönlichkeiten gerne hinzudichtet. Zischler hat gut gelesen, außerordentlich gut, wenn man die Länge dieses Textes bedenkt. Aber es ist doch was ganz anderes wenn der Autor selbst liest, und die Beschreibung, wie Ferguson als Halbwaise mit seiner Mutter durch New York zieht, nicht nur trauernder Trotz ist, sondern wirkliche Freude. Dem Autoren unmittelbar zu sehen, wie er seine Hand beim Lesen in die Hosentasche steckt, wie er sich verbeugt, wenn die Leute ihn jubelnd beklatschen, der feste Blick, als er ausführt, warum er Präsident von PEN werden möchte. Und natürlich die Signierstunde: Wie ein Leipziger Antiquariat sagt, es ist nicht nur der Schnörkel im Buch, es ist der Beweis, dass dieses Buch nicht eines der Millionen Exemplare sind, die nur Maschinen bedruckt haben. Dieses Buch gehört zu den wenigen Büchern, die der Mensch, der auf dem Umschlag steht auch in den Händen hatte. Sowie meine Hand auch und dieses Lächeln nach dem Händedruck – das war es doch wert.

Thilo
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Thilo

Hat sich von einer anfänglichen Faszination für Bücher, über erste Leseerfolge zum Bibliomanen entwickelt. Eigentlich hat der Kulturjournalist nur aus Langeweile gelesen, hier mal ein Buch im Zug, mal eines im Urlaub, mal ein bisschen vorm Einschlafen. Nach unausgegorenen Berufswünschen wie Koch, Hornist oder Schauspieler, verschlägt es ihn zum Studium der Theaterwissenschaft nach Leipzig und in die Redaktionsräume des Ausbildungsradios mephisto 97.6. Ganz beiläufig lässt er hier fallen, dass er eigentlich ganz gerne mal ein Buch lese. Schon einen Monat später leitet er – hopplahopp – die Literaturredaktion und Lesen wird zum Exzess (in den Tagen vor Buchmessen liest er gerne Nächte und Tage durch). Inzwischen spricht er hin und wieder bei MDR Kultur und dem Deutschlandfunk über Literatur, Theater, Musik, neue Medien und alles was die Leute (oder: ihn) interessiert. Sein Ziel: Der nächste Marcel Reich-Ranicki (und ein bisschen Gerhard Stadelmaier) werden – nur besser aussehend … und vielleicht etwas umgänglicher. So lange vergnügt er sich weiter auf schraeglesen.de

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